Krankheit

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"Nun gut. Ihre Ohnmacht war leider kein Zeichen von ersten auftretenden Symptomen. Allerdings hatte ich damit auch nicht so früh gerechnet." Doktor Mechtner hatte das kahle Zimmer betreten, in dem Samira lag. Er hatte sie kurz untersucht, wobei er scheinbar gehofft hatte, bereits Anzeichen für eine Tuberkulose-Erkrankung festzustellen, denn als er keine fand, verdunkelte sich seine Miene. Samira fiel jetzt erst auf, dass auch er sie immer siezte, obwohl es ihr jetzt wie blanker Hohn vorkam, denn jemanden zu siezen, bedeutet ja eigentlich ihm mit Respekt gegenüber zutreten. Doch dieses Monster in weißem Kittel beraubte zahlreichen Menschen ihrer freien Entscheidungen, ihrer Würde und sogar ihrer Gesundheit. Samira dachte an Kant, der doch schon vor sovielen Jahren davon sprach, den Menschen nie bloß als Mittel sondern immer zugleich auch als Zweck zu verwenden, wie konnte dann vor ihr ein studierter Mann stehen, der davon augenscheinlich nichts mehr wusste. Ein Arzt. Aber das lag vermutlich daran, dass sie in seinen Augen und in den von Nazionalsozialisten im Allgemeinen gar kein Mensch war. Wahrscheinlich nicht einmal ein Tier, denn selbst mit Hunden, das hatte sie schon gesehen, ging man besser um als mit den Insassen hier. Möglicherweise war sie ja ein Parasit. Etwas, das versuche sich an den materiellen und ideellen Gütern der arischen Herrenrasse zu laben und sich auf deren Kosten ein gutes Leben mache. Dabei aber auch Krankheit und Verderben über seinen Wirt bringt. Samira hasste es.
"Tja, Sie sollten nun besser schnell wieder gehen, denn da ich keinen medizinischen Grund für Ihr Zusammenbrechen finde, befürchte ich, dass manch einer annehmen könnte, Sie würden simulieren, um faul sein zu können." Samira funkelte ihn zornig an, doch ließ sich sein krankes Lächeln davon nicht beeindrucken. Tatsächlich stand sie auf, leicht zittrig zwar, aber bestimmt. Sie ging wortlos an ihm vorbei aus der Tür, wobei sie unweigerlich wieder an den Kommandanten denken musste, der fast genauso das Zimmer verlassen hatte. An einen Mörder, der Reue gezeigt hatte? Samira spürte die Trauer, die Verzweiflung und die Wut in sich, denn wie bei einem Film spieleten sich die Szenen von Cathys Tod und dem gequälten Kommandanten, der vor ihr saß, vor ihrem geistigen Auge ab. Ihr wurde schlecht. Um nicht wieder zu weinen oder gar Zusammenzubrechen, atmete sie tief durch, kurz bevor sie die Krankenstation verließ, und schob all ihre Gedanken beiseite. Sie musste eine Entscheidung treffen: Entweder sie würde sich dem Schmerz hingeben und daran zerbrechen oder sie würde ihn tief in sich verschließen, sodass er sie zwar unbewusst auf ewig begleiten würde, er sie aber gleichzeitig nicht beherrschen konnte. Sie wählte letzteres, doch zahlte einen hohen Preis, denn um den Schmerz so tief einzusperren, dass er ihr Herz nicht mehr berühren konnte, mussten all ihre anderen Gefühle und Emotionen ihm ins Unterbewusstsein folgen.
Sie erstarrte innerlich zu Eis. Es war fast wie sterben und von außen musste es genauso gewirkt haben, als wäre sie zu einer der armen Untoten hier geworden. Ihr Lebensinhalt bestand aus harter Arbeit und willenloser Gefügsamkeit. Sie sprach kaum noch, dachte kaum noch und fühlte nichts. So bemerkte sie nur machtlos und wie durch einen Schleier all die Veränderungen, die die kommenden drei Wochen mit sich brachten: Die Kälte, die selbst die Aufseher in ihren dicken Mänteln zittern ließ. Helens physische und psychische Tortur, die sich weiterzog und sie fast in den Wahnsinn trieb. Ihre eigene Gewichtsabnahme und zunehmende körperliche Fragilität, denn die Mangelernährung zeigte allmählich Wirkung und auch die Krankheit, mit der man sie infizierte, demonstrierte schleichend ihre Zerstörungskraft. Sie war zwar ihr Leben lang von zierlicher Statur gewesen, doch nun konnte man sie nur noch dürr nennen. Hätte man ihr Gewicht festgehalten, so wären mit großer Sicherheit gerade einmal 40 Kilogramm auf die Wage gekommen, doch das war nicht alles. Plötzlich eintretende Hustenanfälle, die man anfangs noch für eine Erkältung hätte halten können, mehrten sich und steigerten sich auch im Ausmaß ihres Auswurfes. Anfangs hustete sie trocken, allmählich schied sie aber einige Tropfen Blut mit aus. Nichteinmal mehr die Nächte, einzige Möglichkeit für wenige Stunden Erholung zu finden, boten ihr die Möglichkeit der Ruhe und Entspannung, da sie schweißgebadet aufwachte ohne einen Traum gehabt zu haben. Sie zitterte dann am ganzen Körper, obgleich sie keine Kälte, keine Hitze mehr spürte. Vielleicht hatte sie Fieber? Überhaupt spürte Samira nichts von alledem, sie hatte keine Schmerzen und fühlte sich trotz Schlafmangel nicht angespannt oder war müde. Es war als hätte ihr Geist die Verbindung zu ihrem Körper verloren, aber das erschreckende war, dass sie das gar nicht kümmerte. Sie ignorierte ihren immer schmäler werdenden Körper ebenso wie den blutigen Husten und wenn sie einmal nachts in ihrem eigenen Schweiß erwachte, so drehte sie sich sofort wieder um und versuchte wieder Schlaf zu finden. Meist war dieses Unterfangen aber nicht von Erfolg gekrönt.
Während nur wenige Häftlinge die Veränderung bemerkten, so konnten viele Aufseher den Wandel deutlich spüren. Teilweise ganz unbewusst, viel es ihnen deutlich schwerer Samira überhaupt wahrzunehmen. Oft übersah man sie bei gezielten Kontrollgängen, überging sie bei willkürlichen Sanktionierungen oder nahm schlichtweg ihre Anwesenheit nicht wahr. Es war als ob ein Geist Teil des Lagers geworden war. Darüberhinaus behandelten sie auch die wenigen Aufseher, darunter auch Adjutant Wehrer, die sie noch immer wahrnehmen konnten, ganz anders. Sie unterließen gezielt Kontaktversuche, wobei selbst auf die kleinste Schikane, wie ein beiläufiges Anremplen oder eine demütigende Bemerkung, verzichtet wurde, doch nicht aus Mitleid oder ähnlichem. Ganz im Gegenteil, viel eher war es so, dass diese gleichgültige Haltung Samiras gegenüber allem und jedem ihnen Angst machte. Selbstverständlich hätten sie dies nie zugegeben, doch mussten sie sich darüber im Klaren sein, da sie ansonsten sicherlich bereits alles versucht hätten, ihre Ignoranz durch allerlei Erniedrigung aufzubrechen. Tatsächlich getrauten sie sich dies aber nicht, denn diese Art war ihnen vollkommen unbekannt, und war es doch viel leichter, einfach auf Ignoranz mit Ignoranz zu reagieren, solange sie nur fleißig und gehorsam ihrer Arbeit nachging, und genau das tat Samira auch.
Eines Nachts aber verschlimmerten sich Samiras Symptome aber dramatisch. Sie bekam hohes Fieber und erwachte schweißgebadet in einer kleinen Blutlache auf ihrer Latrine. Als würde sie über sich selbst schweben, gelang es Samira problemlos ihren derzeitigen Zustand festzustellen. Sie atmete schwer, ihre Glieder waren so schwer, dass sie sie kaum bewegen konnte und ihre von Auswurf begleiteten Hustenanfälle dauerten fast minutenlang an. Doch wie in einer Narkose, spürte sie einfach nichts. Sie lag einfach da und wartete. Betäubt und als wäre Watte in ihren Ohren verloren gegangen, vernahm sie plötzlich eine Stimme, die scheinbar mit ihr redete. Sie blickte sich langsam um, und erkannte verschwommen Helen, die kniend über ihr gebeugt lag. Weinte sie etwa? Was waren ihre Worte noch gleich? "...stirbst hier nicht...alles verloren...bleib wach...Lügnerin!" Samira konnte Helens Worte nicht sinnvoll verarbeiten, nirgends einordnen und so schloss sie ihre Augen, um zu versuchen konzentrierter zu lauschen: "...wir redeten damals die ganze Nacht, bis er einfach ausfstand und mich küsste...er gab mir Sicherheit...wir heirateten...Schwangerschaft...die Männer in Schwarz kamen so plötzlich...Mörder!"
Als Samira am nächsten Morgen aufwachte, spürte sie noch immer nichts. Allerdings erinnerte sie sich wieder an etwas. Helen. Angestrengt versuchte Samira die bruchstückhaften Erinnerungen an letzte Nacht zusammen zubasteln, doch als ob eine große Mauer zwischen ihr und ihren Gedanken lag, blieb einzige Gewissheit, dass Helen letzte Nacht über sie gewacht hatte. Samira suchte nach ihr, aber im dichten Menschenmeer blieb ihre Suche vergebens. Die Hektik des Morgens sorgte dafür, dass Samira auch kaum Zeit blieb, weiter nach ihr Ausschau zuhalten. Sie wischte sich den kalten Schweiß aus dem Gesicht, während sie gleichzeitig auf die Temperatur ihrer Stirn achtete. Immernoch glühend heiß, aber etwas weniger als in der Nacht. Bevor sie die Baracke verließ, blickte sie sich noch einmal nach Helen um. Vergebens. Was sie jedoch heute ganz bewusst wahrnahm, waren zwei Leichen, die mit leidenden Gesichtern und total verkrümmt auf dem Holzboden lagen. War das ein kleiner Stich in ihrer Brust? Sie hielt sich die Brust, doch ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken, der Appellplatz rief schon ihren Namen.
In der Nacht hatte es geschneit und die neue Kälte, zerrte weiter an den schwindenden Kräften der Häftlinge. Sie zitterten während des langen Marsches zu ihrem Arbeitsplatz und waren darum deutlich langsamer als die Tage zuvor. Auch die Aufseher leideten unter den niedrigen Temperaturen, wobei besonders der eisige Wind in ihren Gesichtern ihnen schwer zuschaffen machte, und so fielen auch sie zurück. Nur Samira bereitete die Kälte keine Probleme und so ging sie unbeirrt und in Gedanken über Helen verloren den Weg, während sie sowohl Insassen als auch Häftlinge überholte. Die Watte in ihren Ohren war wieder da, so hörte sie weder die Rufe der Aufseher noch ihre Trillerpfeifen. Sie lief und lief, als deutete der helle Schnee einen Ausweg aus dieser Hölle an, bis sie plötzlich und ohne Vorwarnung stürzte und ohnmächtig zu Boden fiel.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, fand sie sich im selben kahlen Zimmer wie vor einigen Wochen wieder. Vor ihrem Bett wartete Doktor Mechnter sehnsüchtig und mit fettem Grinsen auf Samiras Erwachen. Sie atmete schwer, ihre Kehle wie zugeschnürt und Schweiß rann ihren Körper entlang. "Tuberkulose", sagte Mechtner ganz verzückt. Samira drehte gleichgültig ihren Kopf zu ihm und sah ihn mit toten Augen an. Diese Anteilslosigkeit schien Mechtner zu verärgern, denn das Grinsen schwand und seine Stimme erhob sich plötzlich: "Sie werden schon noch Emotionen zeigen. Ihre Furcht vor dem Tod, ihre quälende Unsicherheit, ob der Impfstoff helfen wird und deine ungezügelten Schmerzensschreie,wenn dein Körper mit letzter Kraft verucht, die Krankheit auszumerzen, die dein Fieber weiter ansteigen, deine Glieder schmerzen und deine Lunge wie ein loderndes Feuer brennen lässt!" Er hatte sich in seinem Ton gesteigert und letztlich sein Grinsen, diesmal diabolisch, wiederbelebt. Von seiner eigenen Fantasie berauscht, fuhr er fort: "Jeder deiner schweren Atmezüge wird wie Fluch und Segen zugleich sein, denn es bedeutet einerseits, dass du am leben bist, trotz der unendlichen Anstrengungen beim Atmen, aber gleichzeitig die Hölle auf Erden für dich bedeuten, denn in deiner Lunge werden sich gefühlt tausende scharfe Messer befinden, die sich bei jedem Zug und jedem Schlucken in dein Fleisch rammen werden." Aufgebtacht sah er sie mit einem Blick an, als würde er ihre Seele durchdringen wollen. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, fügte ruhig und ernst hinzu: "Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich in dieses Zimmer verfrachtet habe, denn das ist das einzige Einzelzimmer hier. Ha, du solltest sehen, wie die anderen Häftlinge hier leben, zusammengepfercht wie Vieh, was ihr ja auch seid, in dreifachen Stockbetten. Dieses kranke Gesindel erhält auch nur selten ernsthafte medizinische Versorgung. Wieso sollten wir auch gute Arzneimittel an wertlose Geschöpfe wie euch verschwenden? Du aber, hast mehr Glück als sonstwas, denn du erhälst erstmals ein Medikament, dass hoch im Kurs steht Tuberkulose heilen zu können. Bevor du das aber erhälst musst du richtig krank sein..." Er verließ süfisant grinsend das Zimmer. Samira wusste nicht recht, was sie von alldem denken sollte. Ihr Kopf pochte und während sie sich auf das Pochen konzentrierte, bemerkte sie wieder das Stechen in ihrem Herzen. Es wurde stärker, doch blieb das Gefühl des Schmerzes wieder aus und statt sich dem Stechen voll hinzugeben, hinderte sie ihr Kopf scheinbar mittels des Pochens daran.
Sie schlief in dieser Nacht nicht lange und wurde durch ihr blutiges Husten erneut geweckt. Als sie so in diesem kahlen Zimmer lag und die Decke anstarrte, dachte sie daran, dass Mechtner nun endlich sein wahres Gesicht vor ihr gezeigt hatte. Er war genauso Mörder wie Monster und damit wie all die anderen hier. Wie die Aufseher, wie der Kapo, wie Wehrer und wohl auch wie der Kommandant. Bei dem letzten Gedanken meldete sich wieder das Stechen, doch diesmal spürte sie es. Cathy.
Versagt. Samira rannen unweigerlich heiße Tränen über ihr noch heißeres Gesicht. Plötzlich schmerzte alles. Ihr Körper ebenso wie ihr Geist. Und sie hatte Angst. Furchtbare Angst, vor den kommenden Schmerzen, vor dem Sadisten Mechtner und all den anderen Monstern hier. Sie fühlte eine Einsamkeit, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Es gab niemanden, der ihr helfen konnte und sie selbst konnte doch nicht stark genug sein, um alleine hier zu überleben. Mein Versagen hat meinen Tod besiegelt, dachte sie, bevor sie zum ersten Mal seit 15 Jahren wegen sich selbst zu weinen begann.

Der Kommandant [PAUSIERT]Where stories live. Discover now