Arbeit

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Die selbe Stelle wie gestern Abend. Samira stand stumm dort und blickte in die Menge, während sie wartete. Es verging mindestens eine Stunde und das Wetter war kaum erbarmungsvoller als am Vortag. Die Häftlinge hier hatten sichtlich mit der langen Steherei und der Kälte zu kämpfen, aber sie blieben eisern. Ob es noch ihre eigene Willensstärke war, die sie antrieb, oder eine vollkommen andere Kraft, das konnte Samira nur vermuten. Sicher war jedenfalls, dass das Warten absichtlich forciert wurde, um die Gefangenen nur weiter zu demütigen und zu brechen. Vielleicht hatte am Vortag ein Insasse Ärger gemacht oder ein Aufseher hatte einfach nur so Lust seinen sadistischen Trieb über eine morgentliche Kollektivstrafe zu befriedigen. Jedenfalls war das Bild, welches sich hier dann bot, als der Aufseher endlich eintraf, genau das selbe wie gestern. Anderes Schaf, gleiche Uniform und gleicher Hirte.
Auch das Frühstück bot ein bekanntes Bild. Diesmal gab es allerdings 500 Gramm des steinharten Brotes, welches nur erahnen ließ, dass es kurz zuvor mit Butter bestrichen wurde. Außerdem durfte man zwischen dem (Ab-)Wasser,  der Abwasserbrühe und einem anderen Gesöff wählen, dass sich "Ersatzkaffee" nannte. Es roch und schmeckte so abscheulich wie der Tee am Vorabend, aber die Farbe war statt hellgelb eher dunkelblau und etwas viskoser. Aus Neugier und Naivität entschied sich Samira für den Kaffee, wurde aber schwer enttäuscht und ihre Hoffnung auf einen Energieschub verschwand. "Woraus ist dieses Zeug nur?" Samira hob den Becher leicht an und prüfte stirnrunzelnd seinen Inhalt. "Ich glaube Ersatzkaffe kann aus den unterschiedlichsten Pflanzen hergestellt werden. Sogar aus Löwenzahn." Samira richtete ihren Blick auf ihr Gegenüber und erkannte die hübsche Rassenschänderin wieder. Diese lächelte ihr sanft zu, was Samira herzlich erwiderte. Dann antortete sie überrascht: "Tatsächlich? Dann wird mir dieser Trunk wohl kaum das nötige Coffein für diesen Tag liefern..." Sie seufzte kurz, setzte dann aber erneut für eine Frage an: "Aber ein interessanter Fakt. Haben Sie das mal gelesen?" Das Lächeln ihres Gegenüber schwand und sie senkte ihren Blick. "Nein, jemand, den ich mal gekannt habe, arbeitete in einer Malzkaffee-Fabrik und war auch sonst ein sehr leidenschaftlicher Kaffee-Trinker." Ihre Augen verloren sich im Nichts, aber ihr Lächeln kehrte durch die Erinnerung wieder. Samira wusste, dass sie besser nicht weiter nachfragen sollte, deshalb wechselte sie das Thema. "Wie heißen Sie eigentlich, wenn Sie mir die Frage erlauben? Ich kenne bis jetzt ja nur Ihre Nummer und die ist doch recht unpersönlich", erklärte Samira freundlich. "Oh, naja, selbstverständlich erlaube ich Ihnen die Frage, aber es wäre verboten, Ihnen darauf zu antworten." Die junge Frau wirkte unsicher. "Sie haben recht und es wäre sowohl gefährlich als auch ungehorsam, mir Ihren Namen zu nennen. Doch nur ein Tier folgt blind jedem Befehl, ohne über dessen Sinn und Zweck nachzudenken und ohne abschließend selbst zu bewerten, ob es richtig ist dem Folge zu leisten oder Ablehnung zu demonstrieren. Ich habe mich gefragt, warum sie das wohl eingeführt haben, und bin zu dem Schluss gekommen, dass diese Nummern einzig und allein dazu dienen uns zu entmenschlichen, sodass die Aufseher uns mit noch weniger Hemmungen dominieren können und wir uns gegenseitig mit weniger Mitleid oder Fürsorge begegnen. Aber damit nehmen sie uns gleichzeitig unsere Würde und das kann ich einfach nicht akzeptieren... Jedoch möchte ich ihnen nicht den Gefallen tun hier drinnen zu sterben und beuge mich deshalb diesem Gebot und lebe mit dieser Nummer, zumindest vor den Aufsehern, auch wenn das rückgratlos und schwach wirkt. Darüberhinaus will ich auch Sie nicht in Gefahr bringen, darum bitte ich Sie eine Entscheidung für sich selbst zu treffen, ob Sie mir Ihren Namen mitteilen möchten oder nicht." Samira sprach ruhig, aber ihr Tonfall wurde zunehmend ernster und auch ihr Blick starrer. Beeindruckt von der kleinen Ansprache, die Samira vor ihr gehalten hatte, dachte die Frau mit der Nummer 3853 über Samiras Worte nach. Schließlich antwortete sie ihr: "Ich sollte mittlerweile eigentlich wissen, dass ich nicht so leicht vertrauen sollte, aber Ihre Worte leuchten mir ein und ich möchte meine Würde nicht so einfach aufgeben. Allerdings will ich dann, dass wir uns dutzen statt diese lächerliche Höflichkeitsform zu benutzen. Ich heiße Helen." Sichtlich erfreut nannte Samira auch ihren Namen. Es blieb jedoch kaum Zeit den Kontakt weiter zu vertiefen, da die Sirene ankündigte sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.
Anders als erwartet führte der Weg zur Arbeitsstelle sie heute nicht wieder auf die Bausteller der zukünftigen Baracke. Sie, aber auch aln die anderen Neuen wurden für verschiedene Arbeiten eingeteilt und folgten einer jeweils anderen Gruppe dorthin. Samiras Gruppe leitete sie unter Anweisungen eines Kapos zu einer Fabrik eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt vom Lager. Während des Marsches wurden Lieder gesungen, die Samira nur als blanken Hohn und Erniedrigung wahrnehmen konnten. Die begleitenden Aufseher lachten dabei verspottend und achteten penibel darauf, dass auch ja jeder mitsinge, bis das Ziel erreicht war. Es war eine Munitionsfabrik und Samira konnte sich beim Anblick der anderen Arbeiter und Arbeiterinnen schon denken, warum man sie hierfür determiniert hatte. Die meisten waren kleiner als der Durchschnitt und vor allem ihre Hände wirkten durch den großen Gewichtsverlust fast schon kindlich dünn. Wofür Samira früher immer belächelt wurde, wirkte in dieser Gruppe so normal und dadurch passte sie perfekt zur gestreift gekleideten Masse. Eine unter vielen.
Die Arbeit, die Samira hier zu erledigen hatte, war zwar nicht sonderlich schwer, aber nervtötend monoton. An langen Eichenholztischen nahm der Großteil der Frauen und Männer der Gruppe platz und verpackte Gewehrmunition. Dabei konnte es nicht schnell genug gehen, immer wieder trieb der Kapo sie dazu an, ihr Leistungsniveau noch zu steigern, um möglichst viel in so wenig Zeit wie möglich zu verpacken. Die prüfenden und wertenden Blicke vom Aufsichtspersonal und dem Geschäftsleiter der Munitionsfabrik saßen den Arbeiterinnen und Arbeitern dabei stets im Nacken. So vergingen Stunden ohne Pause und während Samiras Körper die Akkordarbeit fast wie von selbst ausführte, glitten ihre Gedanken langsam ab und lösten sich vom Jetzt. Sie dachte an den letzten Tag. An den stählernen Lauf der Pistole, in den sie blickte. Das Lächeln Wehrers und an den Kommandanten, der für das Leid hier verantwortlich war, sie aber dennoch vor dem Tod bewahrte.

Zur selben Zeit empfing der Kommandant inzwischen Doktor Mechtner. Er war gerade damit fertig geworden, die Dokumente der am Vortag Eingelieferten durchzugehen und abzuheften, als Wehrer klopfte, um das Eintreffen des Doktors zu melden. Dieser grüßte mit erhobener rechter Hand den Kommanten und setzte sich ihm gegenüber, nachdem er die Erlaubnis erhielt. "Herr Kommandant, wenn Sie es mir gestatten, dann möchte ich gleich über meine neue Testreihe mit Ihnen sprechen", begann Mechtner gelassen, als er schon dabei war einige Notizen und Aufschriebe aus seiner Aktentasche zu holen. Er war kein nervöser Mann, ganz im Gegenteil, er wusste aber genau, dass der Kommandant es hasste, wertvolle Arbeitszeit mit unsinnigem Geschwätz oder höflichem Geplauder zu verschwenden. "Ich bitte darum", entgegnete der Kommandant ruhig. "Sehr gut. Ich beginne dann mit der Darstellung meiner Vorgehensweise, moment, ah ja: Die ausgewählten Probandinnen erfüllen allesamt die körperlichen Vorraussetzungen und unterscheiden sich kaum, weshalb es keine Probleme bei der Zuteilung geben sollte. Man teilte mir mit, dass sich meine Forschungen diesmal primär mit Sterilisationsmöglichkeiten im Rahmen der Rassenhygienikpolitik befassen soll. Dafür empfehle ich die ausgewählten Jüdinnen mit den Häflingsnummern 3852,3854,3855,3857,3858 und 3859. Die Anzahl ist dementrechend hoch, da hier die größte Mortalitätsrate zu erwarten ist. Ich denke dabei sollte es keine Unstimmigkeit geben, oder Herr Kommandant?" Unbewusst zuckte der Kommandant bei den Ziffern 3859 zusammen und sein Herzschlag veränderte sich. Verständnislos nahm er das zwar wahr, konnte sich aber den Grund dafür nicht erklären. Es machte ihn wütend, nicht die volle Kontrolle über seinen Körper zu haben und es lenkte ihn von klaren Gedanken ab, so erwiderte er nur: "Fahren Sie fort. Ich teile Ihnen am Ende mit, welchen Vorschlägen ich zustimme." Mechter sah den Kommandanten prüfend an. Er war es nicht gewohnt, dass der Kommandant nicht gleich initiativ eine Entscheidung treffen konnte, fuhr dann aber wirklich fort: "Nun gut, ferner habe ich den Auftrag zwei Medikamententests durchzuführen, welche bei Tuberkulose zum Einsatz kommen sollen. Richtig, und eine Angelegenheit in eigener Sache: Ich habe bereits vor eniger Zeit den Antrag gestellt, eine eigene Versuchsreihe zu starten, die untersuchen soll, wie man Selbstverletzungen bei Deserteuren feststellen kann, und habe nun endlich die Genehmigung dafür erhalten. Dafür erfüllt Häftling 3853 exakt die Vorgaben und ich sehe deshalb sie für den Anfang meiner Testreihe vor." Seine Augen bitzten unter seiner Brille deutlich auf und auch der Tonfall seiner Stimme klang bei seinen letzten Worten fast schon heiter. Ein breites Grinsen konnte er sich zwar verkneifen, aber sein Gesichtsausdruck entspannte sich und ein kleines Zucken der Mundwinkel war zu erkennen. Der Kommandant musste nun antworten: "Was ihre eigene Versuchsreihe angeht, so möchte ich Ihnen da freie Hand gewähren, doch würde ich noch gern wissen, wieso Sie Häftlinge 3856 und 3860 für die Tuberkulosemedikamt-Untersuchung vorsehen?" Mechtner überraschte diese Frage nicht, da der Kommandant hinter jeder Entscheidung eine sachgerechte Abwägung vermutete. "Sie sind übrig geblieben", entgegnete er knapp, fügte aber schnell etwas hinterher: "Dabei handelt es sich um eine Kommunistin und eine Zigeunerin. Bei der Frage allerdings, welche Ausbreitung einer Rasse wir verhindern wollen, steht in erster Linie die jüdische Rasse im Vordergrund." Eine kleine Zornesfalte erschien zwischen den Augenbrauen des Kommandanten, als dieser bemerkte, wie beiläufig er dies aussprach, dabei hätten diese Worte genauso gut auch aus seinem Mund stammen können. Das waren sie sicher schon mehrmals, aber gerade jetzt störten sie ihn irgendwie. Als ihm das klar wurde, schob er die Gedanken mit aller Kraft zur Seite und sprach mit fester Stimme: "Wenn wir schon über Rassenhygiene sprechen, dann sollten wir uns dabei nicht nur auf die jüdische beschränken. Schließlich müssen wir dabei an das langfristige Wohl unserer Nation denken und dabei auch berücksichtigen, dass Zigeunerinnen ebenso lebensunwertes Leben gebären wie Jüdinnen. Jedoch sind alle Rassen auch körperlich unterschiedlich aufgebaut beziehungsweise ausgeprägt, wie wir alle wissen. Vielleicht ist deshalb die Möglichkeit, die erlaubt jüdische Fortpflanzung zu verhindern, nicht in der Lage, die selben Erfolgsaussichten auch bei Zigeunern zu gewährleisten? Wir haben hier die Möglichkeit, das zu untersuchen und das sollten wir auch. Ich schlage deshalb vor die Zigeunerin mit einer Jüdin zu tauschen, so haben wir einen Vergleich." Das überraschte Mechtner jedoch schon, aber es bot ihm keinen Verdacht, der Kommandant könne dabei andere Absichten verfolgen als er vorgab. Deshalb stimmte dieser dem Vorschlag zu und auf Anraten des Kommandanten tauschte er Insassin 3859 mit der Zigeunerin 3860, obwohl er nicht davon überzeugt war, dass eine einzige Zigeunerin einen echten Vergleichsfall darstellen konnte. Er verabschiedete sich kurz darauf und traf die ersten Vorbereitungen für seine Vorhaben.
So wurde binnen weniger Minuten über das weitere Schicksal von acht Frauen bestimmt, die allesamt nicht den leisesten Verdacht hegten, was gerade beschlossen wurde, während sie arbeiteten.

Der Kommandant [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt