Heilung

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Wie konnte sie nur all die körperlichen Schmerzen, die ihr jetzt wie eine unaufhörliche Tortur erschienen, ignorieren? Wie konnte sie aufhören zu denken und vergessen, was man ihr und Cathy angetan hatte? Und wieso war das alles jetzt wieder da? Samiras Verzeiflung steuerten ihre Gedanken, dabei kannte sie eigentlich zumindest die Antowort auf die ersten beiden Fragen. Es war Selbstschutz. Ganz trivialer und rein egoistischer Selbstschutz, denn andernfalls wäre sie auf der Stelle gestorben, wenn nicht durch den Schmerz, dann hätte sie wohl selbst dafür gesorgt. Sie hatte diese Pause benötigt, um zumindest ihren Geist ein Stück weit regenerieren zu können. Zumindest vorerst, denn das hohe Fieber ließ sie fantasieren. Erst glaubte sie die Schatten an den Wänden hätten Gesichter, die sie auslachten, später sogar bedrohten. Drei von ihnen kamen auf sie zu und tanzten um sie herum, darunter ein Fetter, der immer wieder ihr zuschrie, sie solle auf der Stelle krepieren. Der Zweite von ihnen trug eine Brille und amüsierte sich köstlich über ihren Zustand, ihre Schmerzen und ihre Furcht. Doch am bedrohlichsten erschien ihr der dritte Schatten. Er war riesig, ein Hüne, der aus sicherer Entfernung sie tatenlos beobachtete, während sie ihn hoffnungsvoll und flehend anstarrte, aber er regte sich nicht. Er schien zu warten, zu lauern, auf eine Chance, ihr unbemerkt noch größeres Leid zuzufügen. Samira war sich nun sicher, dass bevor die Tuberkulose sie umbringen könnte, sie am Fieber sterben würde. Vielleicht würde sie auch einfach wahnsinnig werden und hirnlos in endloser, aber unbemerkter Qual weiterleben.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon in diesem Zimmer eingesperrt lag und auch nicht mehr, wer ihr die Suppe und das Wasser tagtäglich brachte, aber es war jedesmal da, wenn sie die Augen öffnete und das Licht im kahlen Zimmer wieder brannte. Der völlige Verlust ihrer Realitätswahrnehmung beschämte sie und es war demütigend, dass niemand ihr half, obwohl der Wunsch nach Linderung immer größer wurde. Sie begann voll Demut ihr innerliches Bitten und Betteln bereits leise vor sich hin zumurmeln, bis sie in einer Nacht glaubte, wirklich den Verstand zu verlieren und Realität und selbst geschaffene Fiktion eins wurden.
In dieser Nacht (, dass erkannte sie noch, denn das flackernde Licht der Glühbirne im Zimmer war erloschen,) glaubte sie nämlich ein Gespräch durch die verschlosse Holztüre zu belauschen, dass ihre Sehnsucht nach Rettung befriedigen könnte. Eine tiefe und deutlich entrüstete Männerstimme schien aufgebracht zu sein, aber sie verstand die genauen Worte nicht. Plötzlich ein lauter Knall gegen die Tür. Sie schreckte zusammen. Die tiefe Stimme wurde etwas klarer und sie hörte, wie die sie befahl: "Wenn sie stirbt, dann wird auch Ihr Experiment zunichte gemacht! Und eines können Sie mir glauben, ich werde dann dafür sorgen, dass wenn von Nöten sogar der Reichsführer SS Heinrich Himmler höchstpersönlich von Ihrer Fahrlässigkeit erfährt, und wie Sie somit weiterhin verzögern, echte Medikamente gegen Tuberkulose unserer Volksgemeinschaft zukommen zu lassen. Ich werde dann all meine Beziehungen spielen lassen, um Sie auf direktem Wege an die Front zu schicken..." Dann eine devotere klingende Stimme, die nur ein leises "Jawohl" herausbrachte und Fußstapfen, die sich von ihr zu entfernen schienen. Stille.
Als Samira ihre Augen wieder öffnete, brannte das Licht im Zimmer und sie blickte in das ernste Gesicht Mechtners. Sie scheute seinen Anblick und versuchte erfolglos in ihrem Bett zurück zuweichen, als dieser sich ihr näherte. In seiner Hand blitzte die Nadel einer Spritze auf. Samira riss panisch die Augen auf, nachdem sie verstanden hatte, dass ihr diese Spritze injeziert werden sollte, aber ihr Körper ließ keine Abwehrreaktion mehr zu - er war bei weitem zu schwach dafür. Sie hatte keine andere Wahl als die Augen zu schließen und es über sich ergehen zu lassen. Mechtner rätselte währenddessen amüsiert, ob das auf ihrer Wange Schweiß oder eine kullernde Träne sei. Ohne ein einziges Wort auch nur zu sagen, gab er danach die Spritze und verließ dann das Zimmer. Auch er wusste, dass Angst immer Ungewissheit ist und ihr nicht zu sagen, was er ihr da injeziert hatte und weshalb, verursachte in Samira größte Beklemmung. Ihr Herz raste noch minutenlang, bevor es ihr plötzlich gelang neue Kraft zu schöpfen, um tief durchzuatmen und sich selbst zu beruhigen. Ein ursprüngliches Gefühl der völligen Enstpannung überkam sie und es schien ihr, als sacke sie immer tiefer in ihre Matraze ein, bis sie vollständig in ihr versank. Sie schlief tief und fest, zum ersten Mal seit Wochen ohne schweißgebadet zu erwachen und in Panik verloren. Als sie endlich wieder erwachte, war es Nacht geworden. Sie spürte zwar die Schmerzen in ihrer Lunge, aber sie war ausgleichend auch in der Lage, wieder klar und logisch zu denken. Sie blickte sich im kahlen Zimmer um. Ihre Suppe stand immernoch auf einem kleinen Tablett auf einem hölzernen Beistelltisch. In ihr schwamm gerade soviel Suppengrün, dass man sie noch als Brühe deklarieren konnte, mehr allerdings auch nicht. Dazu ein Glas trübes Wasser. Sie aß und trank langsam, immer noch zittrig und geschwächt, aber endlich wieder Herrin über ihren Körper. Unsicher legte sie sich dann wieder hin. So sehr sie es auch genoss wieder richtig denken zu können, Problematisch war daran, dass sie es weder abstellen kann noch klar steuern, und so quälen sie immer wieder aufs Neue die Fragen nach der Zukunft - Doch es geschah vorerst nichts. Funktionshäftlinge brachten ihr immer wieder ihre abwechslungslose Kost und verschwanden aus dem Zimmer genauso wie sie gekommen waren - stumm. Ihre Blicke vollkommen leer, sie wirkten maximal eingeschüchtert. Wenn Samira das Wort an sie richtete, erschraken sie sichtlich und beeilten sich lediglich in ihrem Tun. So verlor Samira bald fast jedes Zeitgefühl. Zwar erschloss sie täglich ob gerade Tag oder Nacht war, doch hatte sie keine Ahnung welche genaue Uhrzeit im jeweiligen Moment sein könnte und auch nicht, wie lange sie sich eigentlich schon in diesem Zimmer aufhielt. Erschwerend war dabei auch die Tatsache, dass sie durch das lebensbedrohlich hohe Fieber die erste Zeit nur noch wie einen Traum in Erinnerung hielt und alles was sie dabei wahrgenommen hatte. Tage waren es mit Sicherheit gewesen, aber waren es schon mehrere Wochen, vielleicht sogar schon Monate? Sie konnte sich kein Urteil bilden. Allerdings fiel es ihr jeden Tag schwerer auszuhalten hier wie ein Tier eingesperrt zu sein. Zwar war sie dies schon seit dem Tag ihrer Inhaftierung, doch blieb ihr damals kaum Zeit auch nur einen einzigen Gedanken an diese Tatsache zu verschwenden. Jetzt aber, hier in diesem winzigen Raum, der noch nicht einmal einen einzigen Strahl Tageslicht einfallen ließ, wuchs ihre Sehnsucht nach Freiheit mit jedem einzelnen Atemzug. Ebenfalls drängte sich immer weiter eine Art Mitteilungsbedürfnis auf. Der Mensch ist ein soziales Wesen und dass ihr jede Form von Kommunikation mit anderen Menschen untersagt wurde, verstärkte das Gefühl der Abgeschottenheit und der Einsamkeit. Alleine irgendwo und mit permanenten Schmerzen eingekerkert zu sein, war eine Mischung physischer und psychischer Folter, die sie dem gerade entkommenen Wahnsinn wieder gefährlich nahe brachte.
Unter dem Druck, der immer größeren Schmerzen und neu auftretender Atmenot schwand ihre Hoffnung auf Erlösung auf ein Minimum. Doch plötzlich, in ihrer dunkelsten Stunde, trat in das dunkle Zimmer eine in unschuldigem weiß gekleidete Lichtgestalt. Mit in neuer Hoffnung ertrinkender Augen starrte sie die Gestalt breit geinsend an, blind und taub vor lauter Euphorie. Tatsächlich sprach das Wesen mit ihr, wenngleich Samira nicht verstehen konnte, was es ihr sagte. Das spielte aber für sie auch keine Rolle, hauptsache sie hörte wieder eine menschliche Stimme. Der Klang war wie himmlische Musik für sie. Die Stimme redete und redete, während sie immer dichter an sie heran trat. Samira schloss die Augen und bemerkte gar nicht, wie der helle weiße Kittel ihr eine Spritze gab, und so schnell wie sie gekommen war, verschwand die mystische Erscheinung auch wieder aus dem Zimmer.
Am nächsten Tag überdachte Samira die gestrige Situation noch einmal. Logischerweise musste die Person, die ihr die Spritze gab, Doktor Mechtner gewesen sein und die Injektion musste wohl das uminöse Medikament enthalten haben. Voller Scham und Ekel registrierte sie nun, dass sie diese Bestie so dankend angelächelt hat, obwohl sie zweifelte, denn in ihrer Erinnerung war die Person riesig gewesen und die Stimme klang so angenehm tief, dass Mechtner eigentluch dafür nicht in Frage kam. Andererseits hatte sie die Person auch für eine magische Kreatur gehalten, die ihre Erlösung, Rettung und Heilung verkörpert hatte. Wie absurd.
Im Laufe der nächsten Wochen blieb Samira wieder weitesgehend allein in diesem Raum, mit Ausnahme der Besuche der Funktionshäftlinge und einem einmal wöchentlichen Kontrollbesuch von Doktor Mechtner. Meist blieb er dabei stumm, doch Samira kam nun besser damit zurecht, denn der blutige Husten und ihre Atemnot verminderten sich zunehmend, wohingegend sie die Einsamkeit durch ihre Fantasie kompensierte. In jeder Nacht nun träumte sie von der in Licht getauchten Gestalt, ihren Erlöser, der mit ihr sprach, ihr Trost spendete und sie ermutigte weiter zuleben. Obwohl sie schnell nicht mehr von "ihm" denken konnte, denn viel mehr durchlief diese Figur einen Prozess der Wandlung von einem geschlechtslosen etwas zu einer großen, starken Frau, die selbst während der größten Demütigung noch Haltung und Anmut wahren konnte. Überhaupt nahm ihr Überlebenswille drastisch zu, nachdem sie so kurz davor war hier elendig zu krepieren. Sie wäre nur eine von Tausenden gewesen, allein in diesem Lager, aber mittlerweile war sie sich sicher, dass es noch zahlreiche andere geben musste, da die Ideologie der Nazionalisten nicht akzeptierte, dass Juden, "minderwertige Rassen" und Oppositionelle in ihren Reihen überlebten. Welche krankhaften Ausmaße diese gestörte Weltanschauung angenommen hatte, musste die Welt erfahren, dafür würde sie sorgen, dass schwor sie sich.
Verbissen hielt sie an dieser Idee die nächsten Wochen fest, bis sie endlich wieder spürte, dass ihr Leiden sich weiter verminderte. Die Schmerzen in ihrer Lunge linderten sich weitesgehend und bald schon wagte sie sich vorsichtig als teilweise genesen zu bezeichnen. Auch Mechtner bemerkte bei seiner allwöchentlichen Routine die Verbesserung. Statt wortlos den Raum zu verlassen, setzte er sich Samira gegenüber auf einen Schemel und seufzte tief auf: "Was soll man sagen? Das Medikament scheint tatsächlich gewirkt zu haben. Natürlich bist du als Einzelperson kaum repräsentativ, um irgendeine wissenschaftliche Aussage über die Wirksamkeit dieses Medikaments zu treffen, aber zumindest wissen wir nun, dass sich eine echte Studie mit zahlreichen Testpersonen lohnen wird, wenn sogar ein minderwertiger Körper wie der deinige diese Krankheit mit ärztlicher Hilfe übersteht. Vielen Dank noch einmal für deine bereitwillige Unterstützung." Ein fettes diabolisches Grinsen breitete sich auf seiner aufgedunsenen Visage aus. Seine Augen durchdrangen Samira förmlich, die schnell verstand, wofür sie eigentlich gerade mitverantwortlich gemacht wurde. Viele weitere KZ-Insassen würden ihr Schicksal nun teilen müssen und auch gegen ihren Wille diese höllische Krankheit durchleiden müssen, deren Hoffnung sich auf ein dubioses Medikament stützt, welches aller Wahrscheinlichkeit nach nichts zu ihrer gesundheitlichen Besserung beigetragen hatte, schließlich gab es seltene Fälle, in denen Menschen Tuberkulose auch ohne Behandlung ausstehen. Doktor Mechtner durchbrach ihren Gedankengang: "Außerdem Glückwunsch, damit bist du die Einzige, die einen erfolgreichen Testausgang verzeichnen kann. Obwohl dauerhafte Folgeschäden sicherlich trotz allem sich festhalten lassen würden, aber darüber führen wir mit dir keinen Test durch." Mechtner verkniff sich ein Lachen, während Samiras Augen sich voller Schock weit öffneten. Bedeutete dieses erfolgreiche Testergebnis bei ihr etwa allein ihr Überleben und somit, dass alle anderen gestorben waren? Helen. Samira spürte einen deutlichen Schmerz in ihrer Brust, doch Mechtner vollendete ganz entspannt was er zu sagen hatte: "Wie dem auch sei, da dies die letzte medizinische Untersuchung an dir war, ist es nun auch Zeit sich deiner zu entledigen, schließlich hast du deinen Zweck erfüllt und bist wohl kaum noch in der Lage diesem Volk irgendwie zu dienen." Noch während er sprach, zückte er eine silberne Pistole aus der Tasche seines Kittels und legte eine Kugel ein. Mit ruhier Hand entsicherte er die Waffe und richtete sie auf Samiras Stirn, deren kalter Lauf sie zum zittern brachte. Paralysiert vor Panik und ohnmächtig vor Schreck, war sie nicht mehr in der Lage sich zu bewegen, stattdessen blickte sie abgestumpft ins Leere. Eigentlich hätte sie in schallendes Gelächter ausbrechen können, schließlich kam ihr die Situation wie ein Déjà-vu vor. Es war merkwürdig wie schnell hier das essenzielle Grundbedürfnis der Sicherheit schwinden konnte und ihr Leben immer wieder von der Gnade oder Ungnade anderer Menschen abhing. Sie schämte sich, dass sie wieder hoffen und beten musste, jemand würde sie retten und beschützen kommen, aber nichts anderes tat sie, denn was hatte sie schon mehr als ihr eigenes Leben? Gleichzeitig schien es ihr unmöglich, dass erneut ihr Leben verschont werden könnte, denn so tragisch der Alltag hier auch war, in einem Theaterstück befand sie sich nicht. Gedanklich hingegen bereiste sie nun die Bühne ihres Lebens und bereitete sich auf das dramatische Finale ihres letzten Akts vor, welcher mit dem Heldentod der Protagonistin enden würde.

Der Kommandant [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt