Appell

1.1K 38 2
                                    

"Adjutant Wehrer!" Samiras inneren Gebete wurden je unterbrochen. Sie riss ihre von den Tränen getrübten Augen auf und erkannte hinter Wehrer schemenhaft die Umrisse einer bekannten Person. Das Wissen, um wen es sich dabei handelte, obwohl sie die Person nicht klar sehen konnte, erlangte sie jedoch durch die Erinnerung an seine Stimme. Es war der Kommandant. Wehrer senkte ruckartig die Waffe und drehte sich geschwind mit dem Gesicht zum Kommandanten. Er salutierte fast reflexartig und öffnete seinen Mund bereits zum Reden. Sein Ansatz dazu wurde jedoch sofort durch den Kommandanten unterbrochen: "Ich hoffe, Ihre Absicht war es nicht diese Frau hier jetzt zu erschießen." Dabei sah er Wehrer kurz ernst an, bevor sein Blick sich auf die halbkniende Samira richtete. Ihre Augen waren unglücklicherweise immer noch nicht dazu in der Lage wieder vollkommen klar zu sehen und so verblieb sie in Unwissenheit darüber, was sein Blick über ihn hätte verraten können. Als könnte er Gedanken lesen, wählte er seine nächsten Worte so, als wolle er seine Motive dafür offenlegen: "Nicht nur, dass Nummer 3859 kräftig genug aussieht, um eine produktive Arbeitskraft darzustellen, so ist sie ferner noch eine Teilnehmerin für Doktor Mechtners neue Studie. Sie nun einfach so hinzurichten wäre folglich ein fataler Verlust, der bei aktuellen Verhältnissen nur schwer zu kompensieren wäre. Dies sollte eigentlich auch Ihrer Kenntnisnahme entsprechen." In seinem Ton glaubte Samira in den letzten Worten etwas Abfälligkeit zu hören. "Herr Kommandant, so lassen sie mich doch erklären! Nummer 3859 entfernte sich unerlaubt von ihrer Arbeitsstelle und hielt eine weitere Mitinhaftierte von ihrer Tätigkeit ab. Noch dazu führten die beiden dabei unerlaubten Direktkontakt, der von ihr iniziiert wurde. Sie wurde über die Bestimmungen hier unterrichtet und wusste, dass die sofortige Liquidierung bei einem solchen Frevel unternommen werden kann!" Die Rechtfertigungsversuche Wehrers änderten weder etwas am Gesichtsausdruck des Kommandanten noch an dessen Einstellung: "Es kann aber auch eine andere Form der Sanktionierung angewendet werden und unter diesen Umständen hätten Sie definitiv diese Alternative wählen müssen." Adjutant Wehrer sah gekränkt und beschämt zu Boden. Ohne dem Kommandanten in die Augen zu sehen, antwortete er: "Sehr wohl, Herr Kommandant. Ich bitte vielmals um Verzeihung und Nachsicht." Der Kommandant nickte. Dann wendete er sich wieder Samira zu, diese konnte mittlerweile wieder klar sehen und versuchte dem Kommandanten direkt in die Augen zu blicken. Dieser richtete das Wort nun an sie: "Häftling 3859, ich widerhole ein letztes Mal für Sie: Das unerlaubte Entfernen von Ihrem Tätigkeitsbereich und die damit einhergehende Unterbrechung Ihrer Arbeit ist strengstens untersagt und wird schwer geahndet. Über Ihre und die Sanktionierung von Nummer 3872 werden Adjutant Wehrer und ich gemeinsam entscheiden. Eines sollte Ihnen jedoch klar sein: Im Augenblick haben Sie für uns lebend einen Nutzen, aber das wird sich schnell ändern. Danach sind Sie hier eine unter Tausenden, die tot fast noch praktischer wäre." Seine Worte klangen kalt, als spräche eine Maschine, aber sie widersprachen gleichzeitig dem Ausdruck seiner Augen. Samira erkannte etwas humanes, dass beinahe wie ein Tor zu seinem Inneren wirkte. Fast hätte sie ihn lesen können, aber nur fast, denn die harten Worte verwirrten sie und wühlten sie innerlich auf. Des Weiteren schmerzten ihre Handgelenke noch immer und sie fürchtete die Strafe für ihr Vergehen, denn egal ob sich der Kommandant als Mensch entpuppen würde oder nicht, sie würde hier nie den Fehler begehen und einem dieser Nazis trauen. Zudem ist Verrat generell schmerzlich, aber Verrat eines Vertrauten ist wie von hinten erdolcht zu werden. Und sie wollte leben. Deshalb nickte sie auch ihm nur zu, ohne auf das Gesagte weiter einzugehen. Schließlich tat sie dann aber doch etwas Seltsames. Sie erübrigte ein kleines Lächeln. Kein breites, fröhliches Grinsen, nur ein leichtes Zucken der Mundwinkel, doch er musste es erkannt haben. Erst öffneten sich leicht verwundet seine Augen, dann blickte er schnell zur Seite, als würde es im Unbehagen bescheren. Samira veranlasste dazu aber das nun doch aufkommende Gefühl der heiteren Dankbarkeit. Innerlich dankte sie Gott für das Erhören ihrer Gebete und sie wusste, dass diese Dankbarkeit auch dem Kommandanten gelten musste. Das Adrenalin strömte noch immer durch ihren Körper, aber ihr Herzschlag verlangsamte sich geringfügig und so kam es, dass sie für einen kurzen Augenblick die gesamte Welt hätte umarmen können. Aber nur ganz kurz. Denn dann erinnerte sie sich wieder an was für einem Ort sie sich gerade befand und sah in eines der ausdruckslosen Gesichter einer der lebenden Leichen an diesem Ort, von denen kaum eine ihre Arbeit unterbrochen hatte, um die Szene zu beobachten. Scham stieg in ihr auf und bedrückt erhob sie sich nun endlich wieder aus der halb knienden Position. "Du hast es gehört. Wage es nicht noch einmal gegen die Lagerordnung zu verstoßen. Und ihr anderen, arbeitet schneller, na los! Wir sind sowieso schon in Verzug!" Das was Wehrer direkt an Samira richtete war voller Ablehnung und Missgunst. Sie war sich sicher, dass sie sich hier nun bereits einen persönlichen Feind gemacht hatte, aber das allein genügte noch nicht, um sie zu erschrecken. Höchstens um sie zu ein bisschen zu verunsichern...
So vergingen die Stunden der harten Arbeit und kurz vor Samiras körperlichem Zusammenbruch, kam der erlösende Ruf des Kapos. Ende. Für diesen Tag hatte sie es geschafft und auch, wenn ihre Füße etwas anderes gesagt hätten, sie hatte überlebt. Zu ihrem Bedauern, machte sich der Arbeitstrupp nicht sofort zurück auf den Weg in die Baracken. Das Ziel war erneut der riesige Appellplatz, den Samira schon an diesem Vormittag kennenlernte. Hier sah sie zum ersten Mal wie viele Menschen sich tatsächlich in so einem Konzentrationslager befanden. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter und wieder entbrannte in ihr die Wut. Es mussten Hunderderte, wenn nicht sogar Tausende von Menschen sein, die hier bereits in Zehnerreihen stillstanden und gezwungen waren zu warten. Ihre Häupter gesengt und anteilslos auf den Boden starrend. Der Kapo forderte auch Samira und die anderen auf, sich dazu zustellen, dessen auch Folge geleistet wurde. Dort warteten sie dann einige Minuten, bis ein Aufseher begann, ihre Anwesenheit zu überprüfen. Es dauerte fast zwei Stunden, bis sie fertig waren, aber statt aufkommender Müdigkeit, empfand Samira nur Frustration und Missgunst. Schließlich war das Bild das sich hier bot, für jemanden, der es zum ersten Mal sah, auch ziemlich schockierend: Wie eine Maschine trug der Aufseher mit regungsloser Miene die Namen der Häftlinge vor und wartete auf eine Reaktion. Regung zeigte er nur, wenn jemand nicht oder nur sehr leise geantwortet hatte. Dann hob er seinen Blick von seiner Liste mit den Namen und ein kleines widerliches Lächeln breitete sich auf seiner Visage aus. Die Augen aber zeigten Wut. Irgendwann hatte Samira keine Lust mehr, auf alle diese Aufseher hier genau zu achten. Sie sah nur noch ein Monster, das dem anderen glich. Groß, blond, kräftig, aber doch nichts weiter als ein dummes Schaf, wie Samira empfand. Er schrie dann, dass die Aufgerufenen vortreten sollten, was nicht immer möglich war, da einige irgendwann in den Mitten der Reihen zusammengebrochen waren. Doch niemand scherte sich um sie, bis ihr Name fiel. Der Aufseher überprüfte dann, ob die am Boden kauernten überhaupt noch lebten. Taten sie es, so wurden sie scheinbar auf die Krankenstation von Doktor Mechtner gebracht. Taten sie es nicht, dann schrieb der Aufseher einfach eine kurze Notiz auf seine Liste und ließ die Person ungerührt weiter auf dem Boden liegen. Die Gefangenen aber, die vortreten konnten, mussten sich darauf einstellen nun ein aus Demütigung, Erniedrigung und Leid gemischtes Ritual über sich ergehen zu lassen. Erst frug er jeden von ihnen, warum  sie nicht geantwortet hatten, wobei es keine Rolle spielten, ob sie antworteten, dass sie es sehr wohl getan hatten oder ob sie überhaupt keine Antwort fanden und sich sofort entschuldigten. Im Gegenteil, der Aufseher hatte dann nur einen Vorwand gefunden sofort zuzuschlagen, da ja impleziert worden war, er sein ein Lügner. Doch auch die, die sofort um Vergebung baten, konnten seinem Prügel nicht entgehen. Mit diesem Schlug er vorzugsweise in die Magengruben der Aufgerufenen und machte keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Wenn sie dann auf den Knien vor ihm lagen und sich schmerzverzerten Gesichts den Bauch hielten, forderte er sie auf um ihr Leben zu betteln. Er gewährte, immer, doch nur nachdem er wieder kräftig auf sie eingeprügelt hatte. Immer. Samira wurde schlecht bei diesem Anblick. Wieder vergingen mindestens zwei Stunden, bevor sie endlich wieder aufbrechen konnten.
Im Gleichschritt ging es dann zurück in die Baracken. Diese konnte Samira nun genauer von innen betrachten. Dabei stellte sie fest, dass die Baracken nicht nur aus dem einen Raum mit den vielen Holzgestellen aufgebaut war, sondern zudem einen Raum, der wohl als eine Art "Waschraum" dienen sollte, und eine Latrine enthielt. Am "Waschraum" ging Samira nur flüchtig vorbei und ihr gelang es, zwar nur einen kurzen Blick zu erhaschen, aber es genügte um sie in Panik zu versetzen. Der penetrante Gestank und der herausquellende Schmutz waren aber auch kaum zu übertünchen. Sie erkannte nun, dass einer Gründe für die vielen Untoten hier die katastrophalen hygienischen Verhältnisse waren, die zu furchtbaren Krankheiten beitrugen und jegliche Hoffnung auf Besserung verwährten. Es beunruhigte sie zu wissen, dass eine einzige winzigkleine Schwächung ihres Imunsystems ausreichen würde, ihre unabwendbare Hinrichtung zu bedeuten. Einen anderen Grund für die äußerliche Erscheinung der Insassen hier erfuhr sie kurz darauf: In der Latrine angekommen setzten sich die Häftlinge entlang zwei langer, abgenutzter Eichenholztische, deren Bänke an Unbequemlichkeit hätten kaum noch zu übertreffen sein können. Kurz darauf wurde das "Abendessen" ausgegeben. Genau zweihundert Gramm hartes Brot mit einem angedeuteten Hauch Butter darauf und ein hellgelbes Gebräu, das Tee darstellen sollte. Es schmeckte, als hätte man giftige Kräuter aufgekocht und den Sud daraus dann mit Urin gestreckt. Alle tranken es aber, denn das Wasser sah aus und roch genauso wie Abwasser.
Immer noch hungrig, aber todmüde, suchte Samira sich danach einen freien Platz zum Schlafen auf den Holzgestellen, fand aber erst keinen. Die hübsche Frau, die Samira noch immer nur unter der Nummer 3853 kannte, hatte allerdings mehr Glück und bot Samira freundlicherweise an, sich zu ihr zu legen. Dankend nahm Samira an und schlief binnen weniger Sekunden ein. Die Nacht war kurz und vollkommen unausgeruht erwachte Samira durch das gellende Geräusch einer Sirene. Ihr tat alles weh und am liebsten hätte sie sich sofort wieder umgedreht, aber sie war sich im Klaren darüber, dass weiterschlafen keine Option darstellte. Ähnlich wie die meisten anderen beeilte sie sich, um ihren Schlafplatz zu richten. Decken und Kissen waren Strohsäcke gewesen, nahmen dadurch aber recht wenig Zeit in Anspruch. Hier sah Samira zum ersten Mal Nächstenliebe im Lager, denn den schwächeren Häftlingen, die nicht mehr in der Lage waren die Strohsäcke zu falten, wurde ausnahmslos geholfen. Deutlich komplizierter gestaltete sich die Situation der Morgentoilette. Sich bewusst, dass Hygiene überlebenswichtig war und sie versuchen wollte, solange wie möglich ihren menschlichen Stolz und ihre Würde zu behalten, versuchte sie in den Waschraum zu gelangen. Trotz des Ansturms gelang ihr dies, denn noch hatte sie viel mehr Energie als der Großteil der Insassinnen hier und sie ergatterte einen Platz an einem Waschbecken. Eiskaltes, schmutziges und widerlich stinkendes Wassee kam aus der Leitung und Samira schloss die Augen und hielt den Atem an, als das Wasser ihre Haut berührte. Das kühle Nass fühlte sich so trotz allem gut an und ermöglichte ihr für einen winzigen Moment das Lager zu vergessen.
Wieder ertönte die gellende Sirene und die Frauen begannen zu rennen. Alle, darunter auch Samira, stürmten hinaus auf den Appellplatz, um erneut die Miserie über sich zu ergehen zu lassen.

Der Kommandant [PAUSIERT]Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin