Rettung

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"Doktor Mechtner!" Sowohl Mechtner als auch Samira zuckten bei dem ungewohnten scharfen Klang der doch so tiefen Stimme zusammen. Ersterer ließ beinahe die Waffe fallen, als er instinktiv aufsprang und den erbosten aber gleichzeitig immer noch kontrollierten Gesichtsausdruck des Kommandanten blickte. Dieser trat mit bestimmtem Schritt dicht an den Arzt heran, bis er ihn von oben herab mit mißbilligendem Blick anstarren konnte. Dann sprach er mit grimmiger Miene aber überraschend ruhig: "Herr Doktor Mechtner, Sie haben doch deutlich verstanden, dass ich alle weiblichen Insassen draußen auf dem Appellplatz versammelt haben will, auch Ihre Patientinnen, sofern sie sich rühren können, oder habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?" Mechtner wirkte deutlich verunsichert, fast verängstigt und wich dem Blick des Kommandanten aus. "Selbstverständlich, Herr Kommandant. Nur befindet sich unglücklicherweise keine meiner Patientinnen in einem angemessenen Zustand, um das Bett zu verlassen", entgegnete Mechtner entschuldigend, was den Kommandanten allerdings in Rage versetzte. Sein Lederstiefel schnellte laut knallend einen Schritt nach vorn, woraufhin Mechtner erschrocken zurückwich. Um ein Haar wäre er dabei gestürzt. Vollkommen entsetzt blickte er nach oben und sah den jetzt verachtenden Ausdruck in den blauen Augen des Kommandanten. "Wollen Sie mich für dumm verkaufen?! Nummer 3859 ist doch augenscheinlich dazu in der Lage, sich aus dem Bett zu erheben und eigenständig auf den Appellplatz zu begeben, Doktor Mechtner!" Der Kommandant ballte die Fäuste. Es kostete ihn sichtlich Kraft seine Beherrschung zu wahren. Vorsichtig und leise zitternd retournierte Mechtner, der seine Hände bereits beschwichtigend vor seinem Oberkörper auf- und abbewegte: "B-bitte, Herr Kommandant! Sie werden doch Nummer 3859 nicht wirklich in Betracht ziehen, ich meine sie ist vermutlich nur oberflächlich genesen, aber wird durch chronische Nebenerkrankungen kaum noch dazu in der Lage sein zu arbeiten. Vielleicht krepiert sie daran auch schon in den nächsten Monaten?" Mechtner versuchte verkrampft zu lächeln, doch der Kommandant blieb hart: "Versuchen Sie nie wieder vorauszusehen, welche Entscheidungen ich wohl treffen werde und warum. Das ist ein grober Fall von Befehlsverweigerung und Sie wissen genau, wie dieser eigentlich bestraft wird!" Die Augen des Kommandanten durchdrangen Mechtner förmlich, dessen Lächeln sich verflüchtigt hatte. Der Kommandant fügte hinzu: "Ich werde Sie dieses Mal nicht sanktionieren, da ich mir sicher bin, dass Sie nicht mehr versuchen werden meine Autorität zu untergraben, nicht wahr Doktor Mechtner?" Sichtlich erleichtert, aber immer noch angespannt antwortete Mechtner: "Jawohl, Herr Kommandant!" Dann wandte sich der Kommandant an Samira. Seine Miene entspannte sich, er beugte sich leicht über ihr Bett und unerwartet sanft fragte er sie: "Können Sie allein aufstehen?" Diese nickte emotionslos ohne den Blick des Kommandanten zu erwidern. Daraufhin richtete er sich auf und befehligte ruhig: "Gut, dann folgen Sie mir auf den Appellplatz." Samira gehorchte widerspruchslos.
Ihre Schritte waren vorsichtig und wacklig, sie wusste nicht wie lange sie gelegen hatte, doch statt sich darüber Gedanken zu machen, wusste sie einfach nicht was sie denken oder was sie fühlen sollte. Dankbarkeit, weil der Kommandant ihr zum wiederholten Mal ihr Leben gerettet hatte? Ihr Leben und doch konnte ausgerechnet sie selbst dieses nicht beschützen. Sie blickte sich um und lachte stumm. Dieser traurige und trostlose Ort des Terrors, dieses Massengrab, schien ihr plötzlich wie der Schauplatz eines lächerlichen Märchens. Sie selbst die schwache Jungfer in Not, die den Gefahren von bösartigen Drachen und fiesen Zauberern ausgesetzt war, und der Kommandant als Held in strahlender feldgrauer Rüstung. Wie absurd. So absurd als könne nur ein Mensch dieses Trauerspiel konzipiert haben. Samira blickte auf den breiten Rücken des Kommandanten. Ist mein Leben nur ein Spiel für dich?! In diesem Augenblick schien ihr der Kommandant als Grausamster von allen an diesem Schicksalsort. Er hielt die Macht hier inne, hätte diesem Leid ein Ende setzten können und Erlöser für Tausende gequälte Seelen, aber stattdessen blieb auch er nichts weiter als ein Mörder, der wohl aus einer Laune heraus ihr Leben ausgewählt hatte, um mit ihm zu spielen, wie eine Katze, die eine Maus nicht um des Töten Willens quält, sondern um des Spielen Willens. Ob Samira wirklich überleben würde, das wusste sie nicht mehr. Schneller noch als der flüchtige Flügelschlag eines Schmetterlings konnte sich hier alles ändern und aus Sicherheit Todesangst werden. Trotz allem, wollte sie leben und nicht einfach kampflos dahinscheiden. Letztlich wurde ihr klar, dass das gesamte Dasein eines Menschen an diesem Ort pure Agonie ist, sie dabei nur ein kleines Blatt am großen Eichenbaum, welches das zufällige Glück besaß, von der Wut des Windes vorerst verschont zu bleiben. Und deshalb Dankbarkeit? Wenn aber die Absicht schlinmer noch als willkürliche Spiellust war, würde es sich dann denn lohnen, dankbar zu sein? Während die Gedanken in ihrem Kopf sich überschlugen, spürte sie wie die Taubheit und die Anspannung langsam nachließen und ein leichtes Kribbeln durchfuhr ihren Körper. Sie lächelte kühl. Am Ende ist der Verstand machtlos gegenüber den Gefühlen und so sehr sie auch versuchte, logisch nach Gründen für oder gegen Dankbarkeit zu suchen, missgückte dies ihr schließlich, denn unkontrollierbar folgten nun auf die Todesangst berauschende Glücksgefühle, die sie zwar nicht gerade jubeln lassen wollten, aber doch für Dankbarkeit ihrem Retter gegenüber sorgten. Wie paradox das alles.
Auf dem Appellplatz angekommen begegnete Samira das selbe Bild wie vor ihrem Aufenthalt in der Krankenbaracke. Hunderte Frauen, deren leere Augen gebrochen auf den Boden starrten, und von denen man nicht einwandfrei hätte sagen können, ob sie wirklich lebendig waren, standen stramm aber zitternd in Reih und Glied. Dort sah sie auch Wehrer wieder, der wie ein Schoßhund auf den Kommandanten zusprang. Als dieser Samira bemerkte grinste er breit. Verunsichert blieb Samira in sicherer Entfernung hinter dem Kommandanten stehen. Dieser wechselte erst einige Worte mit dem Adjutanten, bis er sich umdrehte und mit dem Finger auf eine freie Stelle zwischen den wartenden Frauen deutete. Samira verstand sofort und begab sich ohne zu zögern dorthin, wo sie vom Individuum zum Kollektiv verschmalz.
Der Kommandant selbst platzierte sich vor den Frauen, dicht gefolgt von Wehrer. Prüfend sah er durch die Gesichter der ersten Reihe. Dann begann er laut und deutluch zu reden: "Meine Frauen und Juden, ich benötige in Zukunft eine von Ihnen als ein neues Dienstmädchen in meiner Kommandanten-Villa. Dafür in Frage kommen jedoch nur die, die sich körperlich auch in der Lage fühlen, jegliche Hausarbeit zu verrichten, was bedeutet, das ältere gebrechlichere Frauen und Juden von vornherein ausgeschlossen werden. Jede, die älter als 50 Jahre ist, oder sonstige körperliche Leiden vorweist, die sie behindern könnte, wird nun aufgefordert, sich bei Adjutant Wehrer abzumelden und den Appellplatz umgehend zu verlassen." Erst zögerlich schlichen wenige Frauen aus den Reihen, doch nachdem sie der eiserne Blick des Kommandanten ermutigte, strömten sie nur so davon. Keine wagte es jedoch an Wehrer vorbeizugehen, da vier weitere Aufseher - wachsam wie Schäferhunde - mit Gewehren ausgerüstet nur auf eine Flüchtige lauerten, und so notierte sich dieser jede einzelne Nummer der Frauen, die sich vom Appellplatz zurückzogen. Manchmal huschte ihm dabei ein bedrohliches Lächeln über die Lippen, wenn eine der deutlich jüngeren Frauen sich bei ihm abmeldete.
Es dauerte ähnlich lang wie die sonstigen Appelle, bis die Frauen verschwunden waren und der Kommandant fortfuhr: "Sie bleiben kommentarlos stehen, wenn ich jetzt durch die Reihen gehe und mich für eine von ihnen entscheiden werde." Tatsächlis zog er dann durch die Reihen und prüfte genau jede Frau einzeln. Es dauerte Stunden, bis er bei Samira angekommen war. Die, die der langen Warterei nicht standhalten konnten und zu Boden sanken, wurden sofort von den Aufsehern abgeführt, ignoriert vom Kommandanren, obgleich sie ihn unter Tränen um Verzeihung baten. Das letzte, was man wiederholt vernehmen konnte, war das Geräusch eines Schusses.
Der Kommandant blickte Samira lange an, gleichzeitig sollte sie sich drehen, die Arme heben und ihre Hände ausstrecken. Er kontrollierte gefühlt jeden Zentimeter ihres Körpers, wobei er sie auch berührte. Samira zuckte jedes Mal zusammen, dabei waren seine Hände warm. Er hingegen verzog keine Miene und zog irgendwann wortlos weiter. Es war Samira unmöglich sein Verhalten zu deuten.
Als er schließlich mit der letzten Frau abgeschlossen hatte, marschierte er wieder nach vorne, um seine Verkündung zu verlauten: "Ich habe mich für Nummer 3859 entschieden. Alle anderen können sich wieder zurückziehen." Sie hätte überrascht sein müssen, doch das war sie nicht. Sie hatte zwar sein Verhalten nicht deuten können, aber jede andere Entscheidung wäre dann doch zu absurd gewesen.
Nachdem alle Frauen samt Aufsehern verschwunden waren, blieb nur noch Wehrer neugierig neben dem Kommandanten stehen, welcher ihm jedoch keine Beachtung schenkte. Er befahl Samira erst sich direkt vor ihn zustellen. Er wollte ihr Gesicht, ihren Blick sehen, doch Samira hatte sich von ihm abgewandt und starrte bevorzugt den Boden an. Der Kommandant nickte kaum erkennbar und setzte sich in Bewegung, nachdem er Samira kühl dazu aufgefordert hatte im zu folgen. Sie gehorchte. Hinter den beiden blieb nur ein grinsender Wehrer zurück, der ihnen nachsah.
Ihr Weg führte sie durchs halbe Lager, doch Samira würdigte weder ihrer trostlosen Holzbaracke noch der Krankenbaracke eines Blickes. Sie versuchte auch nicht mehr jemanden zu suchen wie sie einst tat. Wen auch? Sowohl Cathy als auch Helen waren fort und ihr blieb nur die Erinnerung an beide. Etwas abseits vom Lager blieb der Kommandant dann vor einem prächtigen Gebäude stehen. Samira traute ihren Augen kaum, als sie die steinerne Fassade dieser Villa begutachtete, doch nicht Bewunderung war Grund dafür, sondern blankes Entsetzten und Wut. Größere Armut und Hunger als in den Ghettos erfuhren die Menschen hier, während andere scheinbar im Überfluss hausten. Der Kommandant bemerkte ihre Verachtung nicht. Ganz selbstverständlich trat er in das Innere der Bauwerks ein und blieb erst in der Mitte der Eingangshalle stehen. Samira blickte sich um. Sie stand auf einem roten, fein gewebtem Teppich, inmitten einer Halle, die weit größer war als ihre gesamte Baracke für mehrere hundert Frauen. Auf kleinen Beistelltischen tronten förmlich alle möglichen Skulpturen und Vitrinen mit Porzellanfiguren. Vorhänge aus reiner Seide zierten die großen Fenster an den Wänden und überall hingen teuer aussehende Ölgemälde. Samira wurde schlecht. Immer noch wortlos und ohne sie weiter zu beachten führte der Kommandant sie durch die Eingangshalle vorbei, durch diverse Flure und Säale, von denen einer schöner als der andere war. Erst als sie eine gewöhnliche Holztreppe hinabgestiegen waren und in einem dunklem Keller standen, der keinen weiteren Platz für schönen Schnick-Schnack bot, schien der Kommandant sein Ziel erreicht zu haben. Samira fand sich erneut in einem schmutzigen Raum ohne Tageslicht wieder. Er schien eine Art Lager zu sein, da alle möglichen Kisten übereinander gestapelt an den Seiten lagerten. Darüberhinaus befanden sich jedoch ein großer Strohsack mit Laken in einer Ecke des Kellers sowie das Ende eines Schlauchs, das hinter eine Kiste hervorragte, und aus dem etwas Wasser tropfte und ein langer, aber zerbrochener Wandspiegel hier.
Jetzt wandte sie sich dem Kommandanten zu. Ihre blaugrünen Augen funkelten ihn an und ihre Mimik symbolisierte Standhaftigkeit und Stärke. Der Kommandant schien überrascht, doch verunsichern konnte ihn dies nicht. Er hielt ihrem Blick ebenfalls stand und begann wieder zu sprechen: "Als mein Dienstmädchen werde ich dich nicht länger sietzen. Auch wirst du diese Lumpen in meinem Haus nicht mehr tragen können. In der obersten Kiste rechts von mir findest du deshalb neue Kleidung, die du nun anziehen wirst. Davor kannst und solltest du dich jedoch waschen. Ich bin in einer halben Stunde wieder bei dir, bis dahin hast du spätestens fertig zu sein." Ohne auf eine Gegenreaktion Samiras zu warten drehte er sich um und verließ den Keller. Die überrumpelte Samira hörte nur noch das Geräusch eines Schlüssels in der Tür und Fußstapfen, die sich von ihr entfernten. Dann war sie allein. Nachdenklich, aber ohne mit der Situation überfordert zu sein, öffnete sie die Kiste, von der der Kommandant gesprochen hatte, und zog ein paar Kleidungsstücke daraus, deren Aussehen sie nicht sonderlich interessierte. Viel eher sehnte sie sich danach endlich wieder etwas Wasser an ihre Haut zu lassen. Zügig streifte sie das Drillich-Kleid ab, wobei nur ganz flüchtig ihr Blick den Spiegel passierte. Schockiert und wie versteinert blieb sie dann stehen. Erschrocken vergwisserte sie sich ein zweites Mal nach dem Anblick, den ihr der Spiegel bot. Mit weit aufgerissenen Augen klappte sie vor dem, was sie sah zusammen.

Der Kommandant [PAUSIERT]Where stories live. Discover now