Beschützer

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Stumm folgte Samira dem Adjutanten. Es war ihr zwar nicht egal, was man mit ihr vorhatte, aber sie wollte Wehrer auf keinen Fall die Genugtuung geben, Unsicherheit zu zeigen. Stolz war ihr Gang, wenn auch etwas vorsichtig. Doch änderte sich dies schnell, nachdem sie gesehen hatte, wohin ihr Weg sie führte: Ein einsamer Platz mitten im Lager, auf dem nichts weiter als ein großer hölzerner Pfahl stramm da stand. Sie erkannte sofort, was man wohl mit ihr geplant hatte: Ihre Strafe war wohl das sogenannte "Pfahlhängen" eine besonders sadistische Methode Missetäter zu bestrafen wie sie fand. Einmal hatte sie auf dem Weg zur Munitionsfabrik einen Mann am Pfahl hängen sehen. Aufmerksam wurde sie durch seine schmerzerfüllten Schreie und das widerliche Lachen des Oberscharführers. Beim Pfahlhängen wurden dem "Verurteilten" die Hände mit einem langen Strick am Rücken gefesselt, während er auf einem Schemel stand. Urplötzlich wurde dann der Schemel weggestoßen, nachdem der Strick hochgezogen wirde und der Gefangene baumelt vollkommen seinen Schmerzen überlassen in der Luft. Das Ganze hatte schreckliche Folgen, oft litten die Gefolterten noch Monate unter den Nachwirkungen dieser Tortur. Manche wohl sogar ein Leben lang.
Anstatt jedoch in Panik zu verfallen, war Samira von sich selbst überrascht, wie ruhig sie doch blieb. Sie hatte das Gefühl, dass es sich nicht lohnen würde, schon wieder Angst zu haben und innerlich zu zerbrechen. Wehrer störte ihre Ruhe allemal, zudem diese Strafe doch sein Vorschlag war. Samira wehrte sich auch nicht, als Wehrer sie aufforderte auf den Schemel zu steigen und die Hände hinter ihrem Rücken zu verschrenken. Sie gehorchte einfach, ohne das Gefühl zu haben, in Gefahr zu sein. Tatsächlich war es für sie fast schon selbstverständlich, als aus dem Nichts der Kommandant erschien. Mit strammen Schritten hatte er sich dem sonst leeren Platz genähert und stand nun gerade vor Samira. Selbst auf dem Schemel war sie nicht größer als er. Er blickte ihr tief in die Augen, wobei es Samira noch immer nicht gelang, seine Gedanken zu erahnen, aber sein Blick war dennoch getrübt. Er wirkte zwar standhaft wie immer und wahrte Haltung, doch glaubte Samira für einen kurzen Augenblick erkannt zu haben, dass Unsicherheit in seinen Augen lag. Für ihn hingegen, wirkte sie so stark und erhaben wie immer. Vielleicht war es ja Bewunderung, weshalb er immerzu an diese junge Frau dachte, doch konnte dies unmöglich seine reaktionären Handlungen erklären. Nie revidierte er nachträglich ein Urteil oder änderte eine gefällte Entscheidung, denn zuvor dachte er immer penibel genau über die Situation und die resultierenden Konsequenzen seiner Taten nach. Er lächelte, als er sich dies ins Bewusstsein rief, denn er wusste genau, was er gleich tun würde. Samira verwunderte dies zutiefst. Es war das erste Mal, dass sie ihn lächeln sah und es befremdete sie sehr, doch spürte sie dabei ein ungewohntes Gefühl in sich. Es war ein kalter Tag, aber Samira fror nicht mehr, sie spürte an sich kaum noch Schmerz. Das hingegen verursachte Verunsicherung in ihr, denn sie konnte das Ganze nicht einordnen: Der Mann, der diesen grausamen Ort leitet, der für all die Verbrechen hier letztlich verantwortlich war und weiß Gott wie viele Menschen in den Tod befehligte oder gar selbst ermordete, zeigte Samira wohl das menschlichste Lächeln, welches sie jeh gesehen hatte.
Der Kommandant löste nicht seinen Blick von ihr und auch sein Lächeln verweilte in seinem Gesicht, als er Wehrer folgendes mitteilte: "Ich habe ihren Vorschlag noch einmal gründlich überdacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass diese Strafe unverhältnismäßig ist. Ich ändere sie somit in eine Stunde Strafexerzieren um. Der Unterscharführer Meier wird Ihnen dabei zur Seite stehen." Mehr sagte er nicht. Er drehte sich einfach um und verschwand wieder. Samira war genauso perplex wie Wehrer, doch zeigte sich an ihrer Mimik Dankbarkeit, während Wehrer sich augenscheinlich hintergangen fühlte. Seine überrumpelte Konfusität wandelte sich zunehmend in Zorn, als er Samira die halb angebrachten Fesseln löste und sie unter strengem Blick des Unterscharführers auf den Appellplatz führte. Er wusste, dass Meier nur dazu da war, ihn zu kontrollieren - der Kommandamt vertraute ihm also wirklich nicht.
Samira hingegen war sich nun vollkommen sicher, dass der Kommandant ein richtiger Mensch war und keines dieser bestialischen Monster, weshalb sie aufrichtig glücklich war und kein Strafexerzieren der Welt hätte dies im Moment ändern können. Dabei handelte es sich um eine Form der Leibesertüchtigung, die sowohl den Körper als auch den Geist mehr zehrte als jeder Intensivsport, den man sich hätte vorstellen können. Außerdem war Wehrer wütend. Darum genoss er es sichtlich, Samira nun durch die Gegend zu jagen und ihr dabei zuzusehen, wie sie sich quälte. Ihre Lunge brannte bereits nach wenigen Minuten und ihr Herz raste ununterbrochen, denn eine Pause gab es nicht, und so glaubte sie auf der Stelle tot umzukippen, nachdem die Stunde endlich vorbei war. Nie zuvor hatte sie ihren Körper so angestrengt und nie war sie in der Lage gewesen, jeden einzelnen Muskel zu spüren.
Nachdem Meier endlich die erlösenden Worte an Wehrer richtete, dass die Stunde endlich vorbei wäre, hatte dieser sich sichtlich abreagieren können. Er zeigte wieder dieses sadistische Grinsen und konnte kaum aufhören, die am Boden nach Luft ringende Samira anzustarren. Sie war kurz davor sich zu übergeben, doch gelang ihr es, diee doch noch abzuwenden. Merkwürdigerweise war auch sie nicht mehr von Wut und Hass bestimmt, sondern fühlte sich merkwürdig erleichtert. Nicht nur, dass sie glaubte doch einen echten Menschen unter dem Lagerpersonal zu finden, sie hatte gerade auch ihre kühnsten Erwartungen an sich selbst übertroffen. Das gab ihr Kraft. Leider merkte ihr Körper im Augenblick kaum etwas davon, denn das Gefühl der Übelkeit schwand erst dutzende Minuten später. Zudem bewahrte dieser Zustand sie nicht einmal davor, von der restlichen Arbeit bewahrt zu werden. Ein identitätsloser Aufseher kam und begleitete sie zur Munitionsfabrik. Im Weggehen hörte sie Wehrer noch leise murmelnd zu sich selbst sagend: "Eine verdammte Stunde Herumgetolle. Was denkt sich dieser Mann bloß dabei..." Scheinbar hatte diese Strafe ihn doch nicht völlig befriedigt.
Am Abend in den Baracken wünschte sich Samira nichts sehnlicher, als endlich Schlafen zu können. Selbst die piksenden Strohmatten erschienen ihr wie eine Wolke auf Erden. Helen war allerdings mittlerweile doch in wieder Redelaune gekommen. Ihr Blick hingegen war noch immer leblos und wohl für immer getrübt. "Du siehst ja noch ganz normal aus. Ich dachte Wehrer wollte dich endlich bestrafen?" Helens Worte klangen nicht gerade erfreut darüber, dass sie körperlich so unversehrt wieder gekommen war, aber sie klang auch nicht betrübt darüber. Der Ton ihrer Stimme klang eher monoton, fast schon gleichgültig. Vielleicht wünschte sie sich auch, jemand müsse auch nur ansatzweise den Schmerz erleiden, den sie erleien musste. Wieso auch immer. "Das wurde ich auch. Zuerst sollte ich durch Pfahlhängen gezüchtigt werden, doch stell dir vor, kurz bevor es soweit war, kam der Kommandant persönlich und entschied, dass die Strafe in Strafexerzieren umgewandelt werden sollte." Samira musste allein beim Gedanken daran wieder lächeln, doch Helen erwiderte nur emotionslos und ohne sie überhaupt anzusehen: "Alles Schweine, diese SS-Lakaien." Samira sah Helen etwas entäuscht an. Dann antwortete sie bestimmt: "Ich glaube nicht, dass man das so leicht sagen kann. Nicht jeder der SS hier ist ein Monster, so wie nicht jeder Insasse hier ein Heiliger ist." Samira dachte sowohl an den Kommandanten und die dünne Aufseherin als auch an den judenfeindlichen Kapo. Helen sah sie erbost an, als sie fortfuhr: "Man muss bedenken, dass wir alle Individuen sind und nur weil wir hier gefangen sind und man uns Grausames antut, sind wir nicht automatisch alle gut. Es gibt auch unter den Insassen Schweine, so wie es auch unter den Aufsehern welche gibt, die uns vergleichsweise besser behandeln, weil sie nicht von Grund auf schlecht sind. Obwohl man natürlich betonen muss, dass aufgrund der Tatsache so einen Beruf überhaupt ausführen zu wollen, die überwiegende Mehrheit der Aufseher hier widerliche Bestien sind, und weil viele hier sind, nur weil sie nicht in eine menschenverachtende, rassistische, antisemitische und kriegstreiberische Ideologie passen hier eingesperrt werden, weitaus weniger blinde Schweine." Nachdem sie ihren Blick wieder auf Helen richtete, sah sie deren Unverständnis für das Gesagte, und so entschied sie sich nun doch einfach Schlafen zu gehen, um einem drohenden Streit zu entgehen. Sie verstand auch Helen, denn ihr hatte niemand hier bis jetzt geholfen. Ihr gegenüber war der Kommandant so kalt wie bei allen anderen. Darüberhinaus erlebte sie nie, dass ein Aufseher sie vor einer schlimmen Situation bewahrte, sondern viel eher, dass sie selbst bei der brutalsten Folter mithalfen. Letztlich wusste Samira auch so gut wie nichts über Helens Privatleben und die Zeit vor ihrer Inhaftierung.
Der nächste Morgen kam viel zu früh. Samira spürte noch vor dem Aufstehen, dass ihr jeder Muskel schmerzte und sie sich kaum rühren konnte. Zu allem Überfluss folgte dann auch noch der Befehl, dass einige der Arbeiter außerhalb des Lagers für die nächsten Tage innerhalb des Lagers arbeiten sollten, da die neue Baracke aufgrund von kurzzeitigen Arbeitermangels zusätzliche Kräfte zur Fertigstellung benötigte. Fast schon selbstverständlich nahm Samira zur Kenntnis, dass man auch sie für diese körperliche Schwerstarbeit angefordert hatte. Der einzige Lichtblick stellte für sie die Hoffnung dar, vielleicht endlich wieder Cathy zu sehen. Schließlich hatten beide schon das Pech geteilt, überhaupt hier inhaftiert worden zu sein. Doch wurde Samira schnell eines Besseren belehrt. Die Arbeit auf der Baustelle war zwar äußerst hektisch, doch Samira glaubte nicht daran, ihre Freundin einfach nur übersehen zu haben, schließlich hielt sie dauerhaft Ausschau nach ihr.
So schwer ihr dies auch fiel, denn sie wurde körperlich nicht geschont und war gezwungen erneut schwere Holzbalken zu schleppen. Dabei musste sie die Balken oft längere Strecken tragen, doch war dies für sie gleichzeitig auch immer mit Erleichterung verbunden, wenn sie sich dafür kurz von all den Menschen entfernen konnte. Alleinsein, das vermisste sie so sehr, dabei hatte sie es als Kind doch so gehasst, wenn niemand bei ihr war. Samira war kurz davor, in Erinnerungen abzutauchen, als sie plötzlich bemerkte, wie ein Aufseher zwei Häftlinge von der Baustelle wegzerrte und hinter die Wand eines anderen Gebäudes schleifte. War das etwa Cathy gewesen? Samira wollte ihrem Verdacht auf den Grund gehen und so vergewisserte sie sich, dass sie gerade niemand beobachtete und näherte sich langsam dem Gebäude. Tatsächlich erkannte sie Cathy die seitlich zu ihr gerichtet neben einem anderen Häftling kniete. Samira wusste, dass sie sie nicht rufen durfte, denn vor den beiden türmten sich der Aufseher und der Kommandant persönlich auf. Sie war ihrer Freundin endlich wieder so nah und doch zu weit entfernt um zu hören, was dort gesprochen wurde. Sie erkannte nur den Kommandanten, der für sie lautlos seinen Mund bewegte, dennoch freute sie sich ungemein, dass es ihrer Freundin augenscheinlich immer noch so gut ging und, dass der Kommandant da war, denn er würde auf Cathy aufpassen, so wie er auch auf sie achtgegeben hatte. Lächelnd fixierte ihr Blick ihn, während sie im Augeninnenwinkel vernahm, wie der Aufseher seinen Arm austreckte. Wie in Zeitlupe bemerkte sie dann, dass auch der Kommandant langsam seinen Arm erhob und eine Pistole auf die Knienden richtete. Nicht fähig, die Situation zu realiseren, vernahm Samira teilnahmslos und immer noch sanft lächelnd, wie sich zwei Schüsse lösten und zwei leblose Körper zu Boden fielen.

Der Kommandant [PAUSIERT]Where stories live. Discover now