• Five •

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Ich bekam einen Verband um den Kopf. Ich persönlich denke, ein dickes Pflaster hätte gereicht, aber der Arzt im Krankenhaus denkt darüber anders. Zu meinem Leid. Der Verband um den Kopf lässt das ganze schlimmer aussehen, als es eigentlich ist.

Eine Platzwunde. Mehr nicht. Das ist es, was ich meiner Mamá sage. Ihre Reaktion darauf macht mir Angst.

"Mehr nicht, Emilo? Mehr nicht?", ruft sie hysterisch durch das Krankenhaus. Meine Mamá ist eine sehr temperamentvolle Frau. Ich bin froh, dass sie ihren Kochlöffel zu Hause gelassen hat. "Schau dich doch mal an, niño! Dein ganzes Gesicht ist voller Blut! ¡Dios mío!"

Ich fasse mir fragend ins Gesicht. Ich habe noch keine Möglichkeit gehabt, mich anzusehen. Aber als ich das getrocknete Blut unter meinen Fingernägeln sehe, weiß ich, dass sie recht hat. Jetzt kann ich es sogar an meiner Schläfe spüren. Jedesmal, wenn ich mein Gesicht verziehe, spüre ich, wie das getrocknete Blut über meine Haut spannt.
Es war ein merkwürdiges Gefühl.

Der Arzt kommt rein und beachtet mich kaum. Er redete auf meine Mamá ein, die sich kaum beruhigen lässt. Ich habe sie selten so aufgebracht gesehen. Ich sitze auf dem Krankenhausbett und höre ihnen zu. Irgendwann wird es mir zu langweilig und ich fange an, das Blut unter meinen Nägeln wegzukratzen.
Das ist der Moment, in dem meine Schwester María sich zu mir setzt.

"Tut das weh?" Sie zupft an meinem Verband. Ich reiße meinen Kopf weg und schaue sie finster an.

"Lass das."

María verdreht die Augen. "Wie ist das passiert?"

Ich bleibe still. Sie stößt mir ihren Ellbogen in die Seite. "Wie ist das passiert?", hakt sie weiter nach.

Ich weigere mich, es ihr zu erzählen. Ich weigere mich, darüber nachzudenken. Da gibt es nichts drüber nachzudenken.

"Dann frage ich gleich Mamá."
María wendet sich beleidigt von mir ab und ich bin froh, dass sie mich in Ruhe lässt.
Ich wünschte Jaime wäre hier. Jaime hat mich immer verstanden.
María versteht mich nie.

Jaime ist vor ein paar Tagen siebenundzwanzig geworden.
Siebenundzwanzig. Er versteht das Leben.
Ich noch nicht.
Jaime hat eine Frau und zwei Kinder. Jaime ist nicht alleine.
Ich schon.
Ich bin neidisch auf Jaime. Ich wünschte wirklich, Jaime wäre hier.
Vielleicht hat er Antworten auf die Fragen, die mich schon seit Tagen nicht in Ruhe lassen wollen.

"Mamá?", frage ich, als ich endlich entlassen wurde und wir wieder nach Hause laufen. "Wann kommt Jaime wieder?"

"Jaime", wiederholt sie leise. "Mí Jaime. Ich weiß es nicht, Emilo. Er hat viel zu tun."

"Was denn?"

"Trabajo. Sus niños, su mujer."

"Trabajo?"

"Sí, er geht viel arbeiten. Das weißt du doch."

"Können wir ihn dann besuchen?"

"Er ist nicht hier, Emilo."

Jaime ist mit seiner Familie in die USA ausgewandert. Er sagt, weil er dort mehr Geld bekommt.
Geld. Immer ist es das Geld.

"Vermisst er uns denn?"

Meine Mamá lächelt traurig. "Dich vermisst er ganz sicher, chico. Er hat immer nach dir gefragt. ¿Cómo está Emilo?, ¿Qué hace?"

"Warum jetzt nicht mehr?"

Mamá seufzt. "Er hat viel zu tun."

Ich gebe auf.

Zuhause habe ich Mamá immer noch nicht erzählt, was passiert ist. Nicht einmal als sie mich fragt, warum Teo mich morgens nicht abholt. An dem ersten Morgen an dem er nicht auftaucht, habe ich keinen Ton gesagt. Ich hatte Angst, dass ich bei dem ersten Wort anfange zu weinen.
Also habe ich lieber gar nichts gesagt.

In der Schule ist es so, als ob Teo und ich uns nie gekannt haben. Im Unterricht ist der Platz neben mir leer. Dafür höre ich ihn in der letzten Reihe mit Elena und ihren Freunden lachen.

Lachen.

Wie kann er lachen? Wie kann er so sorglos lachen, wenn ich das Gefühl hatte, ohne ihn langsam zu ersticken?

Ich weiß nicht, was zwischen uns passiert ist. Von einem Tag auf den anderen reden wir nicht mehr. Den einen Tag vergleicht er mich noch mit Sand, der ihm langsam zwischen den Fingern entgleitet, den anderen Tag nimmt er es einfach hin und wendet sich von mir ab.
Warum hat er nie mit mir geredet? Warum hat er nicht versucht, das wieder geradezubiegen?
Wir streiten sonst nie.
Nie.
Und jetzt ist plötzlich alles vorbei. Unsere Gespräche, unsere gemeinsamen Träume, unsere Versprechen. Seine Versprechen.

Ich hasse ihn. Aber ich kann ihn nicht hassen.

Etwa eine Woche später im Sportunterricht ist es das erste Mal, dass Leute in der Schule mitbekommen, wie mich ein Schlafanfall überkommt und Teo nicht für mich da ist.
Alle wussten, dass er mir immer hilft. Sie erlebten es jeden Tag mit.

Aber nicht an diesem Tag.

Teo und ich haben zusammen Sport. Ich laufe direkt vor ihm, als ich plötzlich anhalten muss, weil ich es spüren kann. Ich kann spüren, was gleich passieren wird. Ich sehe noch im Augenwinkel, wie Teo kurz langsamer wird und habe die Hoffnung, dass er zu mir kommt und endlich mit mir redet, aber bevor das passieren kann, schließen sich meine Augen und ich falle.

Noch bevor ich wieder aufwache, weiß ich, das Teo nicht bei mir sein wird.
Und so ist es dann auch.
Als ich versuche, ihn durch das Gedränge um mich herum ausfindig zu machen, entdecke ich ihn weiter weg alleine mit dem Rücken zu mir auf dem Platz sitzen. Er schaut hinauf in den strahlend blauen Himmel.

Fast so, als würde er beten.

One Night Is All He WantedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt