• Ten •

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Ich habe Schule immer geliebt. Ich habe es geliebt, neue Dinge zu lernen, verschiedene Leute zu beobachten und mit Teo im Unterricht Briefe zu schreiben.
Aber mittlerweile hasse ich Schule.
Ich hasse es, Teo mit seinen neuen Freunden zu sehen. Ich hasse es, von anderen Leuten angeschaut zu werden. Und ich hasse es, alleine zu sein.

Ich war immer alleine. Bis zu diesem einen Tag, als sich plötzlich jemand in der Pause zu mir setzt.
Erst dachte ich, es wäre einer dieser geschmacklosen Wetten und Witze, die sich die coolen Jungs immer mit uns leisteten.
Aber als ich zur Seite schaue, ist es keiner von den Coolen.
Es ist jemand aus meinem Kunstkurs.

"Hola", sagt er leise, seine Lippen heben sich zu einem leichten Lächeln. Grübchen bilden sich in seinen Wangen. Ich liebe Grübchen.

"Hola", erwiedere ich.
Ich habe vorher noch nie mit ihm gesprochen. Ich wollte ihm immer schon sagen, wie wahnsinnig ich seine Bilder finde.
Er kann gut zeichnen. Sehr gut sogar.
Ich habe ihn immer heimlich dafür bewundert.

"Ich bin Óscar", sagt er.

Ich weiß nicht warum, aber ich muss lächeln. Ich habe so lange nicht mehr gelächelt, dass die Muskeln in meinen Wangen wehtun.
"Ich weiß" sage ich. "Ich bin Emiliano."

Er lächelt auch. Ein schiefes Lächeln. Mir fällt auf, wie gut er aussieht. Mädchen mögen ihn bestimmt sehr gerne.
"Ich weiß. Du bist der, der immer einschläft."

Mein Lächeln wird breiter. "Du bist der Künstler."

Óscar schaut runter auf seine Hände,  seine schwarzen Locken fallen ihm über die Stirn. Bunte Farbtupfer glänzen auf seinen Fingerspitzen. Ich entdecke auf seinem schwarzen T-shirt rote und gelbe und orange Farbsprenkel. Ich frage mich, was er gemalt hat. Vielleicht einen Sonnenuntergang.

"Ich mag dieses Gefühl, weißt du? Alles um dich herum verblasst und dein ganzer Fokus liegt auf der neuen Welt vor dir. Manchmal male ich den ganzen Tag, bis meine Mamá mich zum Essen herunterruft. Es beruhigt mich."

Ich mag es, wie er davon erzählt. Seine dunklen Augen leuchten dabei und seine Finger bewegen sich, als könne er es nicht abwarten, einen Pinsel zwischen den Fingern zu haben.
Óscar ist älter als wir alle. Er hat vorher mit seiner Familie in Kanada gewohnt, sein Vater ist Kanadier. Dann haben sich seine Eltern getrennt und er ist mit seiner Mamá zurück nach Mexiko gekommen. Hier musste er das Schuljahr wiederholen.
Er ist also schon siebzehn, fast achtzehn.
Das sind die Dinge, die sich die Leute hier erzählen. Das ist das einzige, was ich über ihn weiß.
Aber als ich ihn so betrachte, weiß ich, dass Óscar viel mehr ist als das, was man sich über ihn erzählt.
Und ich will alles wissen.

"Kann ich deine Bilder sehen?", frage ich.

Das Leuchten in seinen Augen verblasst ein wenig. Er beißt sich zögernd auf die Unterlippe und schaut mich unsicher an.
Dann schaut er weg und seufzt.
"Ich habe mein Skizzenbuch dabei, wenn du das sehen willst."

"Du willst eigentlich nicht, dass ich das sehe, oder?", frage ich.

Óscar schaut mich an. "Doch, aber ich will nicht, das andere das sehen."
Er beugt sich hinunter zu seinem Rucksack und holt ein kleines dickes Buch heraus. Der Umschlag ist aus dunklem Leder, die Ränder schon abgenutzt. Óscar hat ein dünnes Band um das Buch gewickelt, wahrscheinlich damit es nicht auseindanderfällt.

"Hier", er drückt es mir in die Hand. "Nimm das mit nach Hause. Aber schau dir das bitte nicht in der Schule an."

Das Buch lag schwer in meinen Händen. Ich habe das Gefühl, als würde ich mit diesem Buch alles von Óscar in meinen Händen halten.
Seine Gedanken, seine Wünsche, alles.

"Bist du dir sicher?", frage ich und schaue ehrfürchtig auf das Buch in meinem Schoß.

Als er nicht antwortet, schaue ich wieder hoch und sehe, wie er mich mit einem Lächeln auf den Lippen beobachtet.
Er nickt. "Ja."

Ich verstärke den Griff um das Buch, fast so, als müsse ich es beschützen.

"Ich hole es morgen wieder ab, ist das in Ordnung?", fragt Óscar.

Der Gedanke, dass er freiwillig zu mir nach Hause kommt, macht mir Angst, ist aber gleichzeitig auch aufregend.

Außer Teo war noch nie jemand bei mir Zuhause.

Ich nicke und Óscar lächelt.

One Night Is All He WantedTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon