• Eleven •

1.6K 236 20
                                    


Das Erste was ich tue als ich nach Hause komme ist Óscars Buch anzuschauen.
Ich habe den ganzen Tag darauf gewartet, doch als ich es jetzt in den Händen halte, kann ich mich im ersten Augenblick nicht dazu durchringen, den Umschlag aufzuklappen.
Es ist fast so, als würde mit dem Öffnen dieses Buches eine Verantwortung auf mich zukommen, die ich nicht auf mich nehmen kann.
Oder ich will sie nicht auf mich nehmen.
Weil ich Angst habe.
Aber wovor? Dios mío, wovor?

Ich schlage das Buch auf. Das Erste was ich sehe ist eine Inschrift in goldenen Buchstaben.

For my little angel.
I loved you back then, I love you now and I will always love you.
Remember that.
- Daddy

Das sind die Worte, die dort stehen. Ich weiß nicht, was sie bedeuten. Ich wünschte, ich könnte die Sprache verstehen.
Ich frage Óscar morgen, wenn er das Buch abholt.

Ich blättere um, die Seiten sind ungewöhnlich dünn zwischen meinen Fingern.
Meine Augen werden groß, als ich das erste Bild sehe. Ich kann einen Moment lang nichts anderes tun, als es anzustarren. Dann hebe ich meinen Finger und streiche vorsichtig die Linien des großen Schmetterlings nach.
Er war wunderschön.
Oscar hat die Flügel in unterschiedlichen Blautönen ausgemalt, die Muster und Farben perfekt aufeinander abgestimmt.
Unter dem großen Schmetterling stand in einer schönen Schrift verschnörkelt Mariposa.
Darunter das Datum.
Dieses Bild hat er vor zwei Jahren gemalt.

Auf der nächsten Seite hat er in schwarz und weiß einen Raum gezeichnet. Darin stand ein Bett, unter dem Fenster ein Schreibtisch und auf der gegenüberliegenden Seite ist ein Kleiderschrank. Aus dem Fenster sieht man Berge, die Spitzen weiß gefärbt.
Ist das sein Zimmer in Kanada gewesen?

Ich will gerade umblättern, als mir noch was auffällt. Ich streiche vorsichtig mit dem Finger über das Motiv.
Aus dem Fenster sieht man nicht nur Berge. Da fliegt ein kleiner blauer Schmetterling. So klein, dass man ihn fast nicht sehen kann.
Er war das einzig Farbige in diesem Bild.

Ich blättere um und entdecke auf den nächsten Seiten Landschaftsbilder. Mal in schwarz-weiß, mal in Farbe.
Aber egal, wie es ausgemalt ist, es ist immer in jedem Bild ein blauer Schmetterling zu finden.
Auf dem nächsten Bild ist eine Zeichnung von einem kleinen Mädchen.
Ich erkenne ihre Gesichtszüge, ihr fröhliches Lachen. Das ist Óscars kleine Schwester, Camila.
In ihren dunklen Haaren sitzt eine Haarspange mit einem Schmetterlingsmotiv.

Auf den nächsten Seiten sehe ich Szenen aus dem Schulalltag.
Mir wird allmählich klar, dass Óscar ein Beobachter ist.
Er hat ganze Klassenzimmer mit den richtigen Sitzordnungen gezeichnet, sogar den Schulhof, auf dem zwei kleine Mädchen Seil springen und im Hintergrund Jungs Fußball spielen.
Er hat Pärchen gezeichnet, händchenhaltend oder sogar küssend.
Und nie fehlt der blaue Schmetterling.

Ich blätterte weiter und halte in meiner Bewegung inne, als ich das nächste Bild sehe.
Mein Herz klopft wild in meiner Brust.
Óscar hat mich gezeichnet.
Mich und Teo.
Ich starre das Bild an und weiß nicht, was ich denken soll.

In der Zeichnung liege ich in einem der Flure in der Schule auf dem Boden, mein Kopf liegt in Teos Schoß, der im Schneidersitz mit dem Rücken an eines der Schließfächer gelehnt sitzt.
Teo schaut runter auf mein schlafendes Ich, eine Hand liegt auf meiner Wange. Sanft und vorsichtig, als hätte er Angst, dass ich unter seiner Berührung zerbrechen würde.
Die Zeichnung ist so gut, dass ich jedes Detail erkennen kann.
Teos Haare, die ihm über die Stirn fallen. Der Ausdruck in seinen Augen. Voller Liebe und Vertrautheit, so wie ich Teo normalerweise kenne.
Ich kann spüren, wie sich meine Augen bei dem Anblick mit Tränen füllten.
Ich will das Bild aus dem Buch reißen und es zerfetzen. Und danach wieder zusammenkleben und über mein Bett hängen.
Ich vermisse Teo.

Bevor ich etwas tun kann, das ich später bereuen werde, blättere ich um.
Aber es wird nicht besser.
Auf dem nächsten Bild sehe ich Teo und mich im Unterricht sitzen, die Köpfen zusammengesteckt als wir über irgendwas reden.
Ich blättere weiter.
Dort sind Teo und ich auf dem Pausenhof. Wir sitzen unter einem großen Baum und schauen uns an, lachen.
Óscar hat den Ausdruck auf Teos Gesicht beim Lachen perfekt aufgefangen.

Das nächste Bild ist anders.
Ich bin alleine darauf zu sehen.
Ich sitze im Unterricht am Fenster, die Sonne scheint in das Klassenzimmer und lässt meine dunklen Haare glänzen.
Mein Kinn ist auf meiner Hand gestützt, als ich aufmerksam nach vorne schaue und der Lehrerin zuhöre.
Auch auf dem nächsten Bild bin ich alleine.
Ich sitze im Schneidersitz auf einer Bank auf dem Schulhof und lese ein Buch. Ich schaue auf das Datum und sehe, dass er das heute gezeichnet hat. Das war ich heute. Kurz bevor Óscar sich zu mir gesetzt hat.
Die nächsten Seiten sind leer.

Ich klappe das Buch sanft zu und schaue aus dem Fenster.
Ich wusste nicht, dass Óscar mich beobachtet hat.
Dass er mich überhaupt wahrgenommen hat.

Aber vielleicht ist es jetzt an der Zeit, ihn wahrzunehmen.

One Night Is All He WantedWhere stories live. Discover now