• Nine •

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Es ist das zweite Mal, dass ich ihn anrufe. Beim ersten Mal ist niemand rangegangen. Beim zweiten Mal auch nicht. Ich höre immer nur dieses Tuten am anderen Ende der Leitung.
Meine Mamá steht mit dem Rücken zu mir vor der Spüle, aber ich weiß, dass sie mir zuhört. Ab und zu dreht sie sich um und lächelt mir ermutigend zu.
Beim dritten Anruf habe ich die Kordel des Telefons so fest um meinen Finger gewickelt, dass er blau anläuft. Ich betrachte fasziniert meinen Finger und bemerke erst gar nicht, dass jemand mit mir spricht.

"¿Hola? Wer ist da?", sagt eine weibliche Stimme und ich bin einen Moment lang wie erstarrt. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Sie spricht in einer anderen Sprache.

"Hola", versuche ich zögernd.

Die Stimme wechselt ins Spanische. "Wer spricht da?"

"Ich bin...", zögere ich. Ich weiß nicht, warum ich zögere. Ich habe eine andere Stimme erwartet. "Ich bin Emiliano. El hermano de Jaime."

Am anderen Ende der Leitung ist es plötzlich still. Mamá hat sich inzwischen umgedreht und betrachtet mich mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn.

"Möchtest du mit Jaime reden?", sagt die Stimme sanft.

Ich fühle mich augenblicklich wohler und erkenne die Stimme plötzlich als die meiner Schwägerin. Frida.

"Ja, bitte", sage ich. Im Hintergrund höre ich Kinder herumschreien. Auch auf einer anderen Sprache.

"Moment, ich versuche mal, ob ich ihn erwischen kann. Er ist gerade im Garten, weißt du. Es ist schönes Wetter und wir haben bisher noch nichts im Garten gemacht."

Ich schaue aus dem Fenster. Es regnet.

Frida legt das Telefon hin und geht ihren Mann suchen. Ich warte geduldig und höre immer noch die Kinder herumschreien.

Einen Moment später höre ich ein Knacken am anderen Ende und eine tiefe, dunkle Stimme spricht in den Hörer.

"Emilo?"

Jaime.
Jaime, Jaime, Jaime. Mein Herz schwillt an.
Ich weiß nicht, dass ich weine, bis Mamá neben mir steht und sanft meine Schulter drückt.

"Jaime", sage ich leise.

"Emilo", lacht er und sein Lachen ist ansteckend. Ich muss auch lachen.

"Warum hast du nie angerufen?", frage ich. Mamá geht aus der Küche und kommt nicht wieder.

"Ich habe angerufen. Oft sogar. Aber es ist nie jemand rangegangen."

"Mamá hat gesagt, du hast viel zu tun."

"Das habe ich, aber nicht so viel, dass ich euch vergessen würde."

Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Ich glaube Jaime, dass er angerufen hat. Aber wieso ist Mamá nicht rangegangen?

"Ich vermisse dich, Jaime."

Jaime seufzt leise. "Ich vermisse dich auch, Emilo."

"Wann kommst du uns besuchen?"

"Ich weiß nicht, ob Mamá das will."

"Warum soll sie das nicht wollen? Sie vermisst dich auch."

"Wir haben uns gestritten, Emilo."

Gestritten? Mamá und Jaime? Davon weiß ich nichts.

"Sie wollte nicht, dass ich weggehe. Aber du verstehst das, oder?"

"Es ist wegen dem Geld."

"Wegen dem Geld", stimmt er mir zu.

Danach reden wir noch eine ganze Weile. Über alles. Über meine Neffen, über Abelardo und Héctor, über María. Über Mamá und Papá, über die Schule und Freunde und Teo.
Über Teo sage ich nicht viel. Ich weiß nicht, was.
Jaime fragt zum Glück nicht nach.
Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, darüber zu reden.
Wir reden über seine Arbeit. Über seine Frau, über das Leben in den USA. Er fühlt sich gut dort. Ihm geht es gut. Die Kinder lieben es.

Als wir uns verabschieden, geht die Sonne langsam unter. Wir haben den ganzen Nachmittag geredet und es hat gut getan.
Ich habe Jaime vermisst, aber als wir auflegen, vermisse ich ihn noch mehr.

"Willst du noch mit Abelardo reden?", fragt Mamá, als sie zurück in den Küche kommt und mich sieht, wie ich auf das Telefon starre.

Ich schüttel den Kopf. Ich liebe Abelardo, aber er und ich standen uns nie so wirklich nahe wie Jaime und ich.

"Mit Héctor?"

Ich schüttel wieder den Kopf. Mit Héctor habe ich erst vor zwei Tagen geredet. Er hat gesagt, er ist viel beschäftigt und kann nicht oft reden. Ich liebe Héctor, aber auch er und ich hatten nicht so eine enge Verbindung.

Ich muss wieder an Jaime denken und würde am liebsten nochmal anrufen.
Ich vermisse ihn wirklich.

One Night Is All He WantedWhere stories live. Discover now