XVI

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"Kann schon sein, dass die Gesellschaft mal ein Auge zudrücken kann, Papa. Ich kann es nicht." -T. Fontane

Hogwarts, 1943

Dennoch richtete ich mich auf, was er diesmal auch zu ließ, jedoch löste sich unser Blick dabei nicht. Vorsichtig näherte ich meinen Kopf seinem an, wobei ich ihm noch immer tief in die Augen sah und mein Herz so laut schlug, dass ich Angst hatte er könnte es hören. „Du musst das nicht tun", flüsterte er und sah mich aufmerksam an, wobei ich bemerkte, wie sein Blick immer wieder von meinen Augen zu meinen Lippen sprangen. „Ich weiß, aber ich glaube das Leben ist zu kurz, um immer noch nach den Prinzipien von 1920 zu leben", wisperte ich und wahrscheinlich war das auch mein Antrieb, als ich meinen Mund auf seinen legte. Zugegebenermaßen fühlte es sich irgendwie seltsam an ihn zu küssen, da er im ersten Moment nicht darauf reagiert, jedoch legte er dann ganz vorsichtig seine Hand an meine Wange und drückte meinen Kopf noch näher an seinen, während er gleichzeitig anfing seine Lippen auf meinen zu bewegen. Ich konnte einen salzigen Geschmack in meinem Mund wahrnehmen, der von meinen Tränen kam und ich war mir sicher, dass Tom dasselbe schmecken musste. Allerdings war mir in diesem Moment alles egal, denn es zählten nur seine unendlich weichen Lippen, die meine so zart berührten, dass ich nicht mehr wusste, wo oben und unten war.

Leider verging der Moment viel zu schnell, jedoch konnte ich den Hauch eines Lächelns auf Toms geröteten Lippen sehen, ehe ich schnell meinen Kopf zu Seite wandte. Und nur einen Sekundenbruchteil später überkam mich das schlechte Gewissen in vollen Wogen. Meine Schwester war vor wenigen Stunden gestorben und anstatt um sie zu trauern, küsste ich den Schülersprecher von Hogwarts. Noch dazu kam, dass ich eigentlich viel zu jung für eine solche Liaison war und ich kaum etwas über Tom Riddle wusste, außer dass er sehr gut in der Schule war. Wieder spürte ich wie Tränen in meine Augen traten, jedoch diesmal nicht so viele wie bei den vorigen Malen, wahrscheinlich war mein Körper inzwischen einfach zu ausgelaugt. Außerdem spürte ich allmählich das dumpfe Nichts, dass sich nach einem langen Heulkrampf in einem ausbreitete und weder mein schlechtes Gewissen, noch die Tatsache, dass ich soeben meinen ersten Kuss erlebt hatte, konnte dieses Leere vollkommen verdrängen.

Schluchzend vergrub ich wieder meinen Kopf in meinen Händen und spürte wieder die vertraute Hand auf meinem Rücken und Tom der vorsichtig wisperte: „Juliet?".

„Ich sollte jetzt zurück in meinen Schlafsaal gehen und meine Sachen zusammenpacken, immerhin muss ich später nach Chatsworth reisen", kam es mit brüchiger Stimme von mir, ehe ich mich aufrichtete und Tom ansah. Fast kam es mir so vor, als hätte ich mit meinen Worten einen Schalter umgelegt, durch den ich ihn zurück in die Realität geholt hatte. Denn auf einmal war sämtliche Wärme und Zuneigung aus seinem Blick verschwunden und auch sein Körper nahm wieder seine bekannte, abweisende Haltung ein. „In Ordnung. Ich bringe dich zum Turm der Ravenclaws", entgegnete er mir höflich, aber sehr distanziert, wodurch mir deutlich wurde, dass unsere gemeinsame Zeit nun ein Ende fand.

Mit zitternden Beinen erhob ich mich von den kalten Stufen und erst jetzt bemerkte ich, dass mein Körper komplett durchgefroren war, weswegen ich mich auf das warme Feuer im Gemeinschaftsraum freute. Jedoch spürte ich gleichzeitig wie alle Emotionen in meinem Körper immer mehr abgeschwächt wurden und sich Leere in mir ausbreitete. Tom und ich sprachen kaum ein Wort miteinander, außer wenn er mir kleine Geheimpfade zeigte, weshalb wir kaum andere Schüler sahen. Und als wir die Tür erreichte hatten, die mir auch gleich das Rätsel nannte, verabschiedete er sich so schnell von mir, dass nicht nichts mehr entgegnen konnte, da er bereits die Treppe nach unten gestürmt war.

Im Inneren des Raumes war es ruhig und warm, was wie Balsam für meine gebrochene Seele war. Dennoch wollte ich nicht all zu lange vor dem prasselnden Feuer verweilen, denn sicherlich würden bald die ersten Schüler zum Lernen in den Gemeinschaftsraum kommen und Gesellschaft konnte ich nun wirklich nicht ertragen. Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg in meinen Schlafsaal, wo es sich Audrey auf meinem Himmelbett gemütlich gemacht hatte. „Ane wird auch dich aufpassen, während ich weg bin", flüsterte ich traurig, während ich die Katze hinter dem Ohr streichelte. „Wohin gehst du denn?", ertönte eine besorgte Stimme hinter mir, die eindeutig zu meiner besten Freundin gehörte. Sie musste nur ein Blick auf mein verheultes Gesicht werfen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte. „Hättest du nicht eigentlich Alte Runen?", erwiderte ich ihr, anstatt auf ihre vorherige Frage einzugehen.

Afterglow - TOM RIDDLE Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora