XVIII

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"Grief is a funny thing because you don't have to carry it with you for the rest of your life. After a bit you set it down by the roadside and walk on and leave it resting there." - R. Pilcher

Chatsworth House, 1943

Der nächste Tag kam viel zu schnell und fast fühlte es sich so an, als würde sich das Universum über uns lustig machen wollen, denn die Regenwolken, die seit Wochen über Derbyshire gehangen hatten, hatten sich über Nacht verzogen und so wurden wir an diesem Morgen von herrlichem, fast schon spätsommerlichem Wetter überrascht. Die Stimmung in Chatsworth House fühlte sich hingegen wie tiefster Winter an. Vater war bereits in den frühen Morgenstunden hinausgefahren, um in der örtlichen Kirche die wichtigsten Dinge zu regeln, während unsere Mutter, zusammen mit Sarah und mir, schweigend das Frühstück einnahm und sich dabei lustlos durch unzähligen Trauerbriefe las, die in den vergangenen Tagen eingetroffen waren.

Zu meiner großen Überraschung verzog sie keine Miene, während sie einen Umschlag nach dem anderen öffnete, wobei es sich sowohl um Kondolenzschreiben der Zaubererwelt, als auch der, der Muggel handelte. Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass meine Mutter auch in dieser dunklen Stunde niemals ihre perfekte Fassade bröckeln lassen würde, aber trotzdem hatte ich angenommen, dass sie wenigstens im engsten Kreis der Familie Tränen zulassen würde, aber stattdessen nippte sie nur immer wieder kurz an ihrem Earl Grey Tee, ehe sie wieder wie versessen auf die mit Tinte geschriebenen Zeilen starrte und ich war mir ziemlich sicher, dass sie kein einziges Wort verstand, das dort geschrieben stand. Sarah hingegen brach allein während des Frühstücks schon dreimal in Tränen aus und verabschiedete sich dann zu einem Spaziergang nach draußen, weswegen mir nichts anderes übrigblieb, als ihr mit gequälter Miene hinterher zu sehen, aber ich wusste, dass sie nun etwas Zeit für sich brauchte und wahrscheinlich würde Henry später nach ihr sehen, sobald er sein eigenes Frühstück hinter sich gebracht hatte, das er aus Höflichkeit im Männersalon zu sich nahm. Von Nigel fehlte an diesem Morgen jede Spur, allerdings wurden wir von einer Hauselfin darüber informiert, dass er in seinem Zimmer bleiben würde, bis wir zu Beerdigung aufbrechen würden, worüber keiner von uns sonderlich enttäuscht war.

Und dann gab es natürlich in diesem ganzen Chaos noch mich, die keine einzige Träne an diesem Morgen zustande gebracht hatte, denn es war fast so als hätte ich bereits in den letzten Tagen sämtliche Flüssigkeit in meinem Körper ausgeweint und zurückgeblieben war nur ein großes, dunkles Loch in meiner Brust, das es mir unmöglich machte auch nur irgendetwas zu spüren. Ich hatte wie benommen eine Scheibe Toast gegessen und ein wenig von meinem Tee getrunken, ehe ich mich in den Tagespropheten vertieft hatte, der uns wie jeden Morgen per Eulenpost geliefert wurde. Es war ein merkwürdiges Gefühl zu lesen, dass es in der Welt dort draußen ganz normal weiterging, während hier alles zerbrochen war und man nicht sagen konnte, ob diese Wunden jemals vollkommen heilen würden. Vollkommen neben mir blickte ich auf die sich bewegenden Bilder, überflog Artikel, in denen es um Gesetze des Zaubereiministeriums ging oder um die Zerstörung von London durch die Deutschen, was auch verheerende Auswirkungen auf die magische Welt hatte– all das spielte momentan in meinem Leben keine Rolle mehr. Und als ich auf den hinteren Seiten angelangt war, in der sich das wöchentliche Zaubersprücherätsel befand, schloss ich die große Zeitung und blickte auf die Wanduhr, die mir anzeigte, dass es kurz vor zehn war.

„Wir sollten uns fertig machen. Großmutter Roslyn wird in einer halben Stunde eintreffen", meine Stimme hörte sich schrecklich an, genauso wie ich mich fühlte und offenbar trafen meine Worte Mutter vollkommen unvorbereitet, den vor lauter Schreck ließ sie den Brief fallen, den sie zuvor mit zittrigen Händen umklammert hatte. „Ach, schon so spät?", ihre Stimme war kaum wiederzuerkennen, denn es handelte sich nur um ein schwaches Hauchen und man konnte deutlich heraushören, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht sofort in Tränen auszubrechen. „Dann sollten wir schleunigst in unsere Ankleidezimmer gehen", wieder war das gefährliche Wanken in ihrem Unterton kaum zu überhören, jedoch machte sie keine Anstalten aufzustehen, stattdessen bückte sie sich unter den Tisch, um das Pergament aufzusammeln und verharrte dort. Ich wusste, dass es nun an der Zeit war alleine in unseren Schlaftrakt zu gehen, um ihr etwas Zeit für sich selbst zu gönnen, denn wahrscheinlich waren ihre starken Mauern, während des Frühstücks an ihre Grenzen geraten und es war wirklich nicht der Augenblick, um meine Mutter in eine unangenehme Situation zu bringen.

Afterglow - TOM RIDDLE Where stories live. Discover now