Prolog - 15. Juli 2019

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Mit einem festen Ruck zurrte ich die Schnallen meines Koffers fest. 

"Geht es jetzt?", fragte Grischa, der darauf saß - sonst hätte ich ihn im Leben nicht geschlossen bekommen. 

"Noch ein bisschen." Ich lehnte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Schnalle. Grischa stand noch einmal auf und ließ sich erneut darauf fallen. Die Schnalle rutschte an die richtige Stelle und ich konnte sie endlich schließen. "Jetzt!"

Mein Bruder stand auf und sah sich im Raum um, der ungewöhnlich leer war. Die meisten meiner Bücher lagen in einer großen Kiste und auch große Teile der Fotos, die vorher meine Wand geziert hatten, waren eingepackt. 

Der Raum war merkwürdig vertraut, obwohl ich hier ja doch recht wenig tatsächlich gelebt hatte. Ich meine, die meiste Zeit der letzten sieben Jahre war ich in Hogwarts gewesen. Trotzdem war dieser Raum die letzten achtzehneinhalb Jahre meiner gewesen. Überall waren Erinnerungen. 

Ich schüttelte diese Gedanken weg, der Raum würde ja hier bleiben. Ich konnte jederzeit wieder her kommen. Zumal ich eigentlich gar kein Interesse daran hatte, länger hier zu bleiben. Im Gegenteil. Die letzten zwei Wochen (eigentlich sogar die letzten zehn Monate) hatte ich wie auf glühenden Kohlen gesessen, endlich meine Sachen zu packen. 

"Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du nach London ziehst.", sagte Grischa hinter mir. Ich drehte mich überrascht um. Mir war nicht bewusst gewesen, dass er noch hier war, aber da stand er, im Türrahmen und sah mich an. 

"Ich auch nicht." Ich ließ mich auf mein gemachtes Bett sinken und sah mich noch einmal um. Etwas zögerlich kam er zu mir und setzte sich neben mich. Ich rutschte ein Stück, etwas erstaunt. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in meinem Zimmer gewesen war, geschweige denn dass wir zusammengesessen und geredet hätten. "Und du gehst nach Moskau." 

Er nickte. 

"Schon seltsam, was?", meinte er. "Wir waren die letzten Jahre kaum hier und trotzdem fühlt es sich richtig komisch an, jetzt auszuziehen. So endgültig."

"Es ist ja auch endgültig.", erklärte ich, auch um mir dessen selbst bewusst zu werden. "Wir sind erwachsen. Unser Leben fängt jetzt an." Ich stand auf und ging hinüber zu dem Stapel Kisten, die in wenigen Minuten mit mir 2000 km nach Westen ziehen würden. Obenauf lag ein kleines Notizbuch - mein Portschlüssel. 

"Vielleicht verstehen wir uns ja in Zukunft besser.", sagte Grischa. "Wenn wir nicht mehr aufeinander hocken."

Ich nickte. 

"Ich meine, wir verstehen uns ja nicht nicht.", wandte ich ein. "Aber vielleicht hast du recht. Ich fände es auf jeden Fall nicht schlimm, wenn wir doch noch eine geschwisterliche Beziehung aufbauen." Ich grinste ihn an und er erwiderte es. 

"Na, na, jetzt übertreib mal nicht.", spottete er. Dann rutschte er von meinem Bett und kam zu mir rüber. "Vielleicht besuche ich euch ja einfach mal in London. Ist ja nur einen Portschlüssel entfernt."

"Da freut sich Rain bestimmt.", stimmte ich zu und sah auf die Armbanduhr, die ich zum siebzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. "Ich glaube, ich sollte mich so langsam verabschieden."

Er nickte und wir gingen hinunter, wo der Rest meiner Familie bereits wartete. 

"Na, Schreiberling?" Arina stieß mir gegen die Schulter und lächelte breit. "Bereit fürs Studium?"

Ich nickte begeistert. Creative Writing hieß der Studiengang an der University of London, den ich ab Oktober für die nächsten drei Jahre besuchen würde. Und dann vielleicht noch zwei, mal schauen was die Zukunft brachte. 

"Sowas von bereit!" Ich schloss sie in die Arme und drückte sie extra fest. Sie sollte wissen, dass ich ihr sehr dankbar war, dass sie mich immer weiter ermutigt hatte. In Sachen Schreiben und in Sachen Rain. Ohne sie hätte ich vermutlich beide Dinge aufgegeben, die mir jetzt ein breites Grinsen aufs Gesicht trieben, wann ich immer an eines von ihnen dachte. 

"Naja, bis zum Studienbeginn dauert es ja noch ein paar Monate.", mischte sich Jurij ein und Arina trat einen Schritt zur Seite, um ihrem Mann Platz zu machen. Auch ihn schloss ich fest in die Arme. 

"Bereit für eure große Reise?", fragte er. Ich musste lachen. 

"Absolut.", versprach ich. Ja, ich freute mich sehr darauf, dass Rain und ich im August noch eine gemeinsame Reise nach Rumänien geplant hatten. Charlie Weasley hatte uns für die Drachen begeistern können und so hatten wir vor, dort mit Vicky und Teddy zusammen einige Wochen zu verbringen. 

"Lasst euch nicht grillen.", witzelte Jurij. Ich versprach es feierlich. 

"Naja, das sollten sie gerade noch hinbekommen.", meinte jetzt mein Vater und ich löste mich von Jurij, um mich auch von ihm zu verabschieden. "Viel wichtiger ist, bist du bereit, alleine zu wohnen?" Er sah mich prüfend an. Ich nickte. 

"Ich wohne ja nicht allein.", erinnerte ich ihn. Ein Lächeln blitzte in seinen Augen. 

"Nein, das tust du wohl nicht.", stimmte er zu. "Da hast du recht." 

"Dein Portschlüssel geht in zehn Minuten.", erinnerte Grischa uns beide und ich verabschiedete mich von meinem Vater, bevor ich mich an meine Mutter wandte. 

"Studium. Reise. Alleine Wohnen.", zählte sie auf und sah mich dabei prüfend an. "Fehlt ja nur noch eins: Bist du bereit für die beste Zeit deines Lebens?"

Ich starrte sie überrascht an und sie blickte erwartungsvoll zurück. Schließlich sickerte durch, was sie mir hatte sagen wollen und mir fiel auf, dass sie recht hatte. Hier, heute, begann die beste Zeit meines Lebens: nämlich alles von ihm, was noch vor mir lag. 

Die nächsten Schritte waren eine lang geplante und erwartete Reise, das Studium einer Sache, die ich mehr liebte, als alles andere auf der Welt und ein Leben mit der besten Frau, die ich kannte. Meine Geschichte begann hier, ironischer Weise mit einem Abschied. 

Und meine Geschichte begann jetzt. 

Rain III - SnapshotsWhere stories live. Discover now