11. November 2023 - Natasha und Rain

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Sorry, dass es heute so spät ist, ich habe Atemschutzmasken genäht, damit ich Montag wieder in die Schule darf (da will man nur sein Abi machen, ehrlich...). Auf jeden Fall fragt sich vielleicht der ein oder andere, warum ich diesmal schon am Anfang quatsche...ihr werdet es merken. Kommentiert trotzdem gerne!



Es war Samstag und Rain Mary Granger saß auf der Couch im Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung am Kamin und las. Nicht ganz freiwillig, musste man dazu sagen. 

Vor vier Wochen hatte Natasha ihr Krieg und Frieden gegeben. Im russischen Original. Rain hatte zwar auch nach ihrer Schulzeit immer noch mal wieder russische Bücher gelesen, aber von den Klassikern hatte sie nach den Brüdern Karamasow ihre Finger gelassen. Zu schwer, zu eintönig, zu...langweilig. Aber Natasha liebte Tolstoi, sie liebte ihn wirklich. Rain hätte sich ja breitschlagen lassen, Anna Karenina zu lesen, aber das kannte sie schon, sie hatte es auf englisch gelesen. Krieg und Frieden jedoch war eine ganz andere Sache - das Buch hatte 1800 Seiten, das waren sogar für eine Leseratte wie Rain ein paar zu viel. 

Aber Natasha hatte ihr schon seit Jahren in den Ohren gelegen, dass sie es unbedingt lesen musste. Und vor vier Wochen hatte sie ihr das Buch einfach in die Hand gedrückt. 

"Müssen wir das schon wieder diskutieren?", hatte Rain mit gehobenen Brauen gefragt, aber Natasha hatte nur gegrinst. 

"Ich denke, ich habe einen Weg gefunden, dich zu motivieren.", hatte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln gesagt. "Schlag es auf!"

Rain hatte das getan und ihr war die Kinnlade heruntergeklappt. Das Buch war über und über mit kleinen Klebezetteln bestückt gewesen. Teilweise lugten sie ein bisschen über den Ran hinaus, aber meist sah man sie nur, wenn man zufällig die richtige Seite aufschlug. 

"Was zur Hölle...?", hatte Rain fasziniert und schockiert gleichzeitig gefragt, aber Natasha nahm ihr das Buch wieder weg, bevor sie darin blättern und ein paar der Zettel lesen konnte. 

"Die Regeln sind folgende:", hatte Natasha erklärt. "Alle paar Kapitel findest du einen Klebezettel. Sie sollen dich motivieren, weiterzulesen."

"Wie viele Kapitel hat das Buch?", hatte Rain misstrauisch gefragt und den dicken Wälzer begutachtet. 

"350. Um und bei." Natasha hatte gegrinst. "Ich fordere dich heraus, jeden Tag zehn zu lesen. Dann bist du in gut einem Monat fertig."

Rain hatte die Arme verschränkt und sie mit zusammengekniffenen Augen angesehen. Dann hatte sie ihr das Buch weggeschnappt. 

"Ich wette, ich schaffe es schneller!", hatte sie gesagt und beinahe hätte sie ihrer Freundin die Zunge herausgestreckt. Sie wusste, dass Natasha sie spielte, wie eine Kinderflöte. Ihre Freundin wusste genau, dass sie keiner Herausforderung widerstehen konnte. Aber jetzt hatte sie sich diese Suppe eingebrockt und sie würde sie wieder auslöffeln. War ja nicht so, dass sie ein Studium hatte, worauf sie sich konzentrieren musste. Oder einen Job. 

Also hatte sie begonnen, zu lesen. Sie hatte berechnet, dass, wenn sie es in 30 Tagen schaffen wollte (sie wusste, Natasha zählte mit), sie jeden Tag etwa zwölf Kapitel lesen musste. Die einzelnen Kapitel waren meist nur wenige Seiten lang, von daher war das kein großes Problem. Auch mit der Sprache kam sie überraschend gut zurecht. 

Und dann gab es ja noch die Zettel. Wie sich herausstellte, war es ein wildes Konglomerat an allem Möglichen. Die meisten waren Gründe, warum Natasha sie liebte - was sehr schmeichelnd war und Rain gleichzeitig unendlich viel bedeutete, da ihre Freundin sich dazu selten äußerte. Zwar ließ sich keinen Zweifel daran, dass Rain ihr viel bedeutete, aber sie tat es selten mit Worten. 

Auf den Zetteln standen gelegentlich aber auch sehr flache Witze (Ich habe gerade 2000 Kalorien verbrannt - war das letzte Mal, dass ich Brownies im Ofen vergesse!), Wortspiele (Warum hassen Pflanzen Mathe? - Davon kriegen sie immer quadratische Wurzeln!), Lobe (Wow, die 100-Seiten-Marke geknackt oder Du bist auf der Hälfte, wuhu!) oder kleine Gutscheine, zum Beispiel für Einmal Frühstück im Bett. Alles in Allem musste Rain zugeben, dass es eine der besten Ideen gewesen war, die Natasha je gehabt hatte - und das alles nur, um sie dazu zu bringen, ein verdammtes Buch zu lesen! 

Samstag, der 11. November war Tag 27, seit Natasha ihr das Buch gegeben hatte und Rain war ihrem Plan sogar voraus, da sie letztes Wochenende deutlich mehr als die zwölf Kapitel pro Tag gelesen hatte (sie war einfach zu neugierig auf die nächsten Zettel gewesen). Deshalb war sie jetzt in Kapitel 13 (von 16) des Epilogs und zupfte gerade den letzten Zettel heraus. Sie vermutete zumindest, dass es der letzte war, denn so wie sie Natasha kannte, befand sich ganz am Ende nur ein Glückwunsch zum durchgelesenen Buch. 

Erinnerst du dich an den Tag, als du meine Haare umfärben wolltest und es nicht geklappt hat?, stand darauf. Rain runzelte die Stirn, als sie versuchte, sich daran zu erinnern. Dann fiel ihr das Ereignis aus dem Herbst ihres sechsten Schuljahres ein und sie musste grinsen. Dass sie damals wirklich geglaubt hatte, so einen Zauber tatsächlich wirken zu können! Sie las weiter: Es hat funktioniert. Es ist dir nur nicht aufgefallen, weil meine Haare vorher weiß waren und plötzlich waren sie hellblond. Wie deine. 

Rain musste vor Überraschung lachen. Dass Natasha ihr das so lange verschwiegen hatte! 

"Was ist los?", erkundigte sich die Person, über die Rain soeben nachgedacht hatte. Sie saß am anderen Sofaende, hatte die Füße auf das Sitzpolster gezogen und ihr Laptop lag auf ihren aufgestellten Knien. In der Höhle darunter schlief David.

"Einer deiner Zettel.", meinte Rain kopfschüttelnd, noch immer lächelnd. 

"Welcher?" Natasha rappelte sich auf, beförderte den Laptop auf den Couchtisch und kletterte über den Kater, um näher an Rain heranrücken zu können. Auch sie grinste, als sie sah, welchen Zettel Rain gerade in der Hand hatte. "Aber den hatte ich doch als letzten reingeklebt..." Sie sah auf die Seitenzahl und begutachtete das Buch kurz von der Seite. "Krass, du bist ja schon fast durch!"

Rain nickte, nicht ohne einen gewissen Stolz. Natasha stand auf. 

"Ich hole mir noch Kakao, willst du auch?", fragte sie, während sie in die Küche ging. Sofort sprintete David ihr hinterher - es könnte ja sein, dass sie ihn füttern würde. Rain überlegte kurz, eigentlich war ihr eher nach einem Kaffee. Andererseits war es schon später Nachmittag, von daher verwarf sie den Gedanken wieder. 

"Ja, bitte!"

Während Natasha in der Küche herumwerkelte und versuchte, dm Kater zu erklären, dass er keinen Kakao durfte, konzentrierte sich Rain wieder auf die letzten paar Kapitel. Sie musste zugeben, dass ihr das Buch im Endeffekt sogar ziemlich gut gefallen hatte. Nicht dass sie das ihrer Freundin gegenüber zugeben würde. 

Beim Umblättern einiger der letzten Seiten fiel ihr eine kleine pinke Ecke auf, die aus der letzten Seite, unmittelbar vor dem hinteren Buchdeckel, herausragte. Sie musste sich, wie so oft, zurückhalten, nicht vorzublättern. Stattdessen nahm sie sich ruhig Zeit, die letzten Seiten zu lesen. Sie nahm kaum wahr, wie Natasha mit zwei dampfenden Tassen Kakao hineinkam, sie auf den Tisch stellte und dann wieder ihren Laptop zur Hand nahm. 

Wäre sie ein bisschen aufmerksamer gewesen, was ihre Umgebung anging, wäre ihr aufgefallen, dass das gewöhnliche Klicken von Natashas Tasten fehlte. Das lag daran, dass Natasha nicht schrieb. Sie beobachtete über den Rand hinweg, wie Rain die letzten Seiten des Buches las, welches sie selbst so liebte. 

Jetzt erreichte Rain die letzte Seite. Kurz hielt sie inne. Sie freute sich auf den letzten Zettel, aber gleichzeitig fand sie es auch schade, dass es damit vorbei war. Entschlossen blätterte sie ein letztes Mal um. 

Da war er, der kleine Zettel, quadratisch, pink, mit sorgfältigen Kugelschreiber-Worten darauf. Sie las, was darauf stand. Dann entglitten ihr alle Gesichtszüge. Ihr Blick schoss hinüber zu Natasha, die ihren Laptop ein Stück zugeklappt hatte und sie mit blitzenden Augen direkt ansah. In ihren Händen hielt sie etwas kleines, rundes, das im Flackern des Kaminfeuers glänzte.

Rains Augen huschten wieder zu den vier kleinen Worten, die dort in Natashas kursiver Handschrift auf der Seite klebten. 



Willst du mich heiraten?



Rain III - SnapshotsWhere stories live. Discover now