It's Corona Time

Kapitel 1: Jongin

Tag 224: Ein ganz normaler Morgen.

Das Kunstwerk war beinahe vollbracht.

Jongin musste nur noch die letzte Coca-Cola Dose auf die Spitze der Pyramide platzieren. Er hielt den Atem an und gab sich alle Mühe, die Leiter unter seinem Gewicht ruhig zu halten. Wenn seine Berechnungen aufgingen... dann müsste die Dose perfekt zwischen die untere Dose und die Decke passen. Er befeuchtete sich die Lippen.

Vorsichtig... Vorsichtig...

Er schob die letzte Dose an ihren Platz. Sie lag tatsächlich an der Decke an aber...

Die Pyramide stand. Sie stand!

Jongin stieg von der Treppe hinunter und begutachtete sein Werk. 400 Cola-Dosen, viel zu viel Zucker und mehr als ein Koffeinschub später und hier war sie! Sein ganzer Stolz aus strahlendrotem Aluminium und weißem Schriftzug.

„Gut gemacht", flüsterte er und vollführte eine Verbeugung vor seinem imaginären Publikum. Aber der Erfolg hielt nur einen Moment länger, ehe er sich umdrehte und realisierte, dass er sich nun eine neue Beschäftigung suchen musste.

Vor 224 Tagen hatte Jongin zuletzt das Haus verlassen. Nicht einmal den Garten oder den Pool hatte er seitdem betreten. Was mit einem harmlosen Virus irgendwo in China begonnen hatte, hatte sich über die Monate hinweg zu einer Weltumspannenden Pandemie entwickelt. Covid-19, das niemand so recht ernstnehmen wollte, war zu Comort-20 mutiert.

Und dann war auch das letzte Gelächter abgeebbt.

Jongin blieb sein Mobiltelefon, der Fernseher, die wöchentlichen Besuche eines Soldaten, der ihm Proviant auf die Fußmatte stellte und natürlich...

Es war ein wenig peinlich als Jongin aufsprang wie ein Golden Terrier, als er hörte, wie eine Tastenkombination in den Bildschirmmonitor neben der Tür eingegeben wurde.

Er lief zur Eingangstür und wartete darauf, dass Junmyeon sich hinter der Glastür mit Desinfektionsspray einsprühte und noch vor Ort aus seiner Schutzkleidung trat. Junmyeon winkte ihm. Jongin winkte zurück.

Junmyeon war Arzt und damit Teil einer kleinen Gruppe Menschen, die noch ins Freie durften, ohne vom Militär festgenommen zu werden.

Er bedeutete Jongin zurückzutreten, als er die Glastür aufdrückte. „Du weißt, dass ich mir erst die Händewaschen muss."

„Mach schnell, ich muss dir etwas zeigen."

„Sind es wieder TikToks? Du verbringst zu viel Zeit auf der App. Les' stattdessen ein Buch oder so."

„Ich bin fertig mit der Pyramide!"

Junmyeon steckte den Kopf aus dem Badezimmer heraus, um ihm einen anklagenden Blick zuzuwerfen. „Du hast unseren gesamten Cola-Vorrat ausgetrunken?"

„Für die Kunst. Ja."

Er schüttelte den Kopf. „Wer weiß, ob wir neue geliefert bekommen."

„Sag das, nachdem du es gesehen hast!" Junmyeon zog sich gerade ein frisches Shirt über den Kopf, als er das Badezimmer verließ. Jongin konnte ihn endlich am Arm greifen und ins Wohnzimmer zerren. „Und?", fragte er, als sie endlich vor seinem Meisterwerk standen. „Was sagst du?"

„Ich sage, die Menschheit geht den Bach runter." Er lachte, als er Jongins Gesicht sah. „Aber es ist schon ein bisschen beeindruckend."

„Sage ich doch! Und jetzt zeige ich dir meine neuen Lieblings-TikToks."