Kapitel 7: Jongin

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Tag 226: Nein.

Es war nicht fair.

Junmyeon war der beste Mensch, der auf diesem Planeten wandelte. Er war gut und mitfühlend und fleißig und...

Jongin sank in seinem dummen Plastikstuhl zusammen. Millionen Mal hatten seine Gedanken bereits ihre Runde gezogen. Millionen Mal war er zu dem Schluss gekommen, dass es nicht fair war, dass ausgerechnet Junmyeon sich angesteckt hatte.

Comort-20.

Das tödlichste Virus, das es jemals gegeben hatte. Zehnfach schneller als Syphilis, hundertmal tödlicher als die Pest.

Und es war schmerzhaft. Niemand hatte Jongin gewarnt, wie schmerzhaft.

Jongin sah hilflos dabei zu, wie sich Junmyeon hinter zentimeterdicken Plexiglasscheiben in einem Krankenhausbett wälzte. Die Ärzte konnten die Blutung nicht stoppen, so dass die gesamten Laken bereits durchtränkt waren. Nichts, weder Morphium noch anderes Schmerzmittel konnten ihn ruhigstellen.

Jongin sah dabei zu, wie der beste Mensch auf dieser Welt dem fürchterlichsten aller Tode erlag.

Nachdem Jongin im Krankenhaus angerufen hatte, war alles sehr schnell gegangen. Jongin und Junmyeon wurden in speziellen Krankenwägen abtransportiert. Junmyeon wurde von seinen Kollegen empfangen, die er erst an diesem Morgen verabschiedet hatte.

Sie wurden beide auf Comort-20 getestet.

Junmyeons Test fiel positiv aus.

Jongins negativ.

Man hatte Jongin infolgedessen zurück in die Quarantäne schicken wollen, aber er hatte sich geweigert, geschrien und um sich geschlagen, bis man ihm erlaubte zu bleiben.

Hier saß er also. Zusammengefaltet auf einem dummen, blauen Plastikstuhl, während Junmyeon kümmerlich dahinstarb.

Es war nicht fair.

Eine Hand rüttelte an seiner Schulter. Jongin schrak auf. Eine Frau mit den freundlichsten, braunen Augen, die Jongin jemals gesehen hatte, lächelte auf ihn hinunter.

„Es ist vorbei", sagte sie sanft.

„Was?"

„Junmyeon—"

Jongin stürzte auf und stolperte an die Glasscheibe. Junmyeon war vollkommen still geworden. Er war vollkommen bewegungslos! „Ist... Ist er..." Jongin brachte die Worte nicht über die Lippen.

Junmyeon, Junmyeon, Junmyeon...

„Nein", sagte die Ärztin sanft. „Er befindet sich in der letzten Symptomstufe von Comort-20."

„Was bedeutet das?"

„Seine Nervenstränge sind abgestorben. Er kann sich nun nicht mehr bewegen, bis es vorbei ist."

Jongin konnte die Augen nicht von Junmyeon wenden, auch wenn er unlängst nicht mehr scharf sehen konnte. Er lehnte die Stirn an die Glasscheibe. „Darf ich... bitte... darf ich noch einmal..."

„Natürlich. Wir haben einen Anzug für dich bereitgelegt." Sie führte ihn in den nebenanliegenden Raum, der durch eine Schleuse mit Junmyeons Krankenzimmer verbunden war.

Der Raum war voll von Ärzten, aber niemand schien zu arbeiten.

Natürlich nicht, es waren Junmyeons Arbeitskollegen, manche davon bestimmt auch gute Freunde.

Sie trauerten, weil Junmyeon...

„Du bist Jongin?", fragte eine Frau, mit langen, braunen Haaren und einem Klemmbrett in der Hand. „Junmyeons..."

„Mitbewohner", antwortete Jongin. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen – keinem von ihnen. Alle blickten ihn tief betroffen an, manche hatten offenkundig bereits geweint.

„Er hat oft von dir gesprochen."

Jongin schluckte.

„Junmyeon... er ist einer von unseren besten. Er hat vielen Menschen das Leben gerettet und kann stolz auf sich sein." Sie räusperte sich, als ihre Stimme brach. Ein anderer Arzt trat an sie heran und legte seinen Arm um sie.

Es war ein unwirklicher Moment, weil Junmyeon starb, weil Jongin in einen Anzug steigen musste, um sich bei seinem besten Freund zu verabschieden, weil er ihm nicht einmal das Blut vom Gesicht wischen könnte...

Jongin wurde instruiert, während er in den Anzug stieg, aber seine Gedanken waren völlig durcheinander. Als er in der Schleuse stand und für einen Moment in Rauch gehüllt war, zählte er einen stillen Countdown hinab. Dann öffneten sich die Türen.

Jongins Knie gaben beinahe nach, aber er schaffte es, sich an Junmyeons Bett zu schleppen.

Es war schrecklich.

Jongin hatte noch nie in seinem Leben etwas vergleichbar Schreckliches gesehen.

Eine der Regeln war, das Jongin Junmyeon nicht berühren durfte, aber wie – wie zur verdammten Hölle – sollte er neben ihm stehen und es nicht tun?

Er suchte nach Junmyeons Hand nahm sie ganz vorsichtig in seine. Er trug nicht einmal eine Atemmaske, war an keine Geräte angeschlossen, weil nichts davon ihn retten könnte.

Es gab keine Behandlung für Comort-20.

Jongin erschrak über den plötzlichen Lärm, bevor er realisierte, dass es sein eigenes Schluchzen war.

„Es ist nicht fair", flüsterte er. „Wieso ausgerechnet du?"

Jongin konnte nicht sagen, wie lange er so dastand. Vielleicht nur ein paar Minuten, vielleicht Stunden, Tage... es machte keinen Unterschied.

„Jongin?" Sein Name wurde durch einen Lautsprecher in den Raum getragen. Wahrscheinlich nicht zum ersten Mal.

Jongin zog die Nase hoch. Ein letztes Mal drückte er Junmyeons Hand. Ein letztes Mal, bevor...

„Jongin?"

Dieses Mal war es nicht die Sprachanlage, durch die sein Namen geknistert wurde.

Jongins Blick fuhr zu Junmyeons Gesicht hinauf.

Seine Augen waren geöffnet.

„Was machst du hier?" Es war nicht seine Stimme. Dafür war sie viel zu rau, wie mit Schmirgelpapier bearbeitet und dennoch... „Es ist zu gefährlich." Es war Junmyeon.

„Junmyeon..."

Hinter ihm wurde die Schleuse geöffnet. Ärzte strömten in den Raum, Jongin wurde sanft zurückgedrängt.

„Unmöglich", hörte Jongin einen Arzt sagen, ehe sich die Türen der Schleuse vor seinen Augen schlossen.

Unmöglich.

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Sorry für dieses Bombardement an Kapiteln, aber sie sind so kurz!! (Das ist absolutes Neuland für mich!! :O) aber ich mag wie es aussieht, wenn wirklich jede Perspektive ihr eigenes Kapitel bekommt. Manche Kapitel sind später auch nur ein-Wort-lang oder so, also werde ich wahrscheinlich immer wieder einen ganzen Schub an Kaps veröffentlich :) 

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