Kapitel 1

2.5K 90 9
                                    

Sie war die schönste Frau der Welt. Künstler standen Schlange, um Bilder von ihr malen zu dürfen. Fotografen lauerten in allen Ecken, um ein Foto von ihr schießen zu können. Reporter verfolgten ihr Leben mit einem unbändigen Interesse. Der Preis für eine ihrer bronzefarbenen Federn stieg mit jedem verstreichenden Tag in die Höhe.

Die Menschen waren von ihr fasziniert und verehrten sie. Die Vampire fürchteten ihren Zorn, was sie daran hinderte in einen Blutrausch zu verfallen und hunderte Sterbliche zu töten. Die Engel sahen in ihr einen erbarmungslosen Erzengel, der seine Feinde ohne mit der Wimper zu zucken töten würde und dessen Loyalität in erster Linie sich selbst umfasste.

Michaelas strahlend grüne Augen richteten sich auf den nächtlichen Himmel über New York. Der Vollmond tauchte ihre Umgebung in gelbliches Licht. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Sie war ein Erzengel. Finsternis konnte ihren Sinnen nichts anhaben, außerdem war es in Raphaels Stadt niemals richtig dunkel. New York schlief nie.

Eine merkwürdige Stadt, wie Michaela fand. Wunderschön und gefährlich, wie der Erzengel, der sie regierte. Jung und voller Leben, das war New York. Auch Raphael entsprach diesen Angaben. Neben ihm fühlte sich die Königin von Konstantinopel alt, obwohl sie diese Welt nur knappe fünfhundert Jahre länger bewohnte. Er hatte einen Weg gefunden, auch in der Seele jung zu bleiben. Elena.

Vor ihr am Himmel sah sie den Erzengel von New York mit seiner Jägerin. Selbst in einem solch privaten Moment strahlte er eine ungeheure Macht aus. Elena hingegen war nichts weiter, als ein Küken. Die beiden umkreisten einander, bevor sie Seite an Seite zu einem kurzen Flug über die Stadt aufbrachen. Sie waren nicht die einzigen Engel, deren Umrisse Michaela klar erkennen konnte.

Mit einem leisen Flüstern sortierte sie ihre bronzefarbenen Flügel neu. Das berauschende Gefühl, das Raphaels Gemahlin bei jedem Flug empfand, war bei der Hohepriesterin von Byzanz schon lange verschwunden. Natürlich flog sie noch, doch es bereitete ihr keine Freude mehr. Es war eine Notwendigkeit geworden. Das angenehme Kribbeln in ihren Federn, das sie dem Himmel entgegendrängte, war verloschen.

Solche Gedanken waren Michaela nicht neu. Ihr Leben hatte sich festgefahren. Sie war eines der mächtigsten Wesen der Welt. Jeder Mensch, jeder Vampir und jeder Engel kannte ihren Namen. In den Geschichtsbüchern war über sie geschrieben worden. Alles, was sie sich als junger ehrgeiziger Engel vorgenommen hatte, war bereits erreicht.

Dennoch wurde sie dieses Gefühl nicht los. Langeweile, Eintönigkeit, Unvollständigkeit beschrieben jeden ihrer Tage. Nichts konnte daran etwas ändern. Ob es der Schlaf könnte? Vielleicht war dies nicht ihre Zeit. Vielleicht musste sie ruhen, um in einem neuen Leben zu erwachen. Zweitausend Jahre waren keine lange Zeit für einen Engel, doch Michaela fühlte sich alt und müde.











Dariel schoss lachend über den nächtlichen Himmel von New York. Illium war ihm knapp auf den Fersen, obwohl er einige Minuten nach seinem Freund gestartet war. Elenas Glockenblümchen war in den vergangenen Jahrzehnten nur noch schneller geworden. Ein blauer Blitz, doch auch Dariel war kein gewöhnlicher oder schwacher Engel. Was er dem Krieger aus Raphaels Sieben in Geschwindigkeit schuldig blieb, konnte er mit anderen Fähigkeiten ausgleichen.

Mitten in der Bewegung klappte er seine Gewitterwolken-Flügel, wie die Gemahlin des Erzengels sie oft bezeichnete, zusammen. Augenblicklich fiel er. Rasend schnell kam der Asphalt der New Yorker Straßen auf ihn zu. Angst empfand der Engel keine, denn er kannte seine Kräfte. Wenige Meter über dem Boden öffnete er seine Schwingen und schoss wie ein Pfeil in die Höhe.

Während er an seinem jüngeren Freund vorbeischoss, hörte er dessen Lachen. Illium hatte nicht mit diesem Manöver gerechnet, was dafür sorgte, dass er einen Moment zögerte und so war es Dariel, der zuerst die Hand auf die Spitze des Empire State Buildings legte. „Nicht schlecht, Dari", lobte der blaugeflügelte Engel, als er sich neben diesem auf das Dach fallen ließ, „die vielen Reisen haben dich nicht müde gemacht."

EngelsfährteWhere stories live. Discover now