Kapitel 13

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Sara und Illium hatten sich merklich angespannt, als Michaela auf dem Spielplatz landete. Die Hohepriesterin von Byzanz könnte ohne mit der Wimper zu zucken alles Leben an diesem friedlichen Ort vernichten. Sie hatten lediglich aus zwei Gründen noch keine Waffen auf sie gerichtet. Der eine bestand darin, dass der weibliche Erzengel noch nie ein Kind verletzt hatte. Doch viel schwerwiegender war der andere. Dariel hatte sie darum gebeten und die beiden vertrauten dem Fährtensucher.

„Lady Michaela", grüßte Sara mit einer Höflichkeit, die sie zur Direktorin des amerikanischen Zweigs der Gilde machte und dennoch keine Schwäche oder Angst zeigte. Die Jägerin hatte ihren Posten nicht inne, weil sie eine gutaussehende Frau war. Sie war gefährlich und kampferprobt. Mit einem perfekten Lächeln neigte Michaela den Kopf. Illiums bohrender Blick löste in ihr den unbändigen Wunsch aus den jüngeren Engel zu provozieren, doch die Frau in ihr, die von Dariel so ungemein fasziniert war, rief sie zur Ordnung.

Das kleine Mädchen blickte Michaela aus großen Augen an. „Schöner Engel", stellte sie bewundernd fest und streckte die kurzen Ärmchen nach ihr aus. Ihre Finger berührten die Flügel des weiblichen Erzengels, bevor einer der Erwachsenen eingreifen konnte. Augenblicklich hielt die Welt den Atem an, denn die Königin von Konstantinopel war nicht dafür bekannt, dass sie ein solches Vergehen ungestraft ließ.

Ein ehrliches Lächeln schlich sich auf die Lippen des weiblichen Erzengels: „Vielen Dank. Du bist auch sehr hübsch." Behutsam breitete Michaela einen Flügel weiter aus so, dass das Mädchen ihn besser erreichen konnte. Begeistert glitten die kleinen Finger über die bronzefarbenen Federn, bevor sie sie plötzlich zurückzog: „Upsi, Ellie sagt, nicht alle Engel mögen das." Der betretene Gesichtsausdruck auf dem kleinen Gesicht versetzte Michaela einen Stich mitten ins Herz. Kinder waren schon immer ihre größte Schwäche gewesen. Ob der Fährtensucher das wusste?

„Elena hat recht, nicht alle Engel mögen Berührungen an ihren Flügeln", lächelnd strich sie dem Mädchen durch das Haar, „du solltest vorher fragen." Die Augen der Kleinen wurden groß, als Michaela ihre Schwingen einmal zur Gänze ausbreitete. „Normalerweise tut sie das auch, nicht wahr Prinzessin Zoe?", warf der Fährtensucher ein und hauchte dem Mädchen einen Kuss auf die Wange.

Kichernd wand sich Zoe in seinen Armen, bis Sara sie dem Engel abnahm: „Genug gekuschelt, Prinzessin. Dariel und Illium werden schon erwartet." Als Michaela dem Blick der Gildendirektorin folgte, entdeckte sie ein paar ältere Jungen und Mädchen, die verstohlen zu ihnen herübersahen. Ein Ball lag vor ihnen auf der grünen Wiese. Die beiden Engel verneigten sich vor der Kleinen und schlenderten lachend auf die Gruppe zu.

Offenbar konnte Sara im Gesicht des weiblichen Erzengels lesen, denn die junge Frau beantwortete deren ungestellte Frage: „Wenn sie in der Stadt sind, spielen die beiden einmal in der Woche mit den Kindern Fußball. Viele von ihnen haben keine Eltern oder kommen aus schlechten Verhältnissen. Anfangs waren es weniger, aber sie bringen immer mehr Freunde mit." „Warum?", Michaela legte den Kopf zur Seite und beobachtete das Schauspiel vor ihr. „Zum einen stärkt es den Zusammenhalt zwischen den Engeln und uns Menschen. Zum anderen behalten wir dadurch die Kinder im Blick und können potenzielle Jäger bereits früh erkennen, aber ich denke, dass das nicht die wahren Gründe sind. Es macht den beiden einfach Spaß."

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis das Spiel in vollem Gange war und sowohl die Kinder als auch die Engel vor Begeisterung lachten. Natürlich nutzen Illium und Dariel nicht ihre volle Stärke und Schnelligkeit, sehr wohl aber ihre Flügel. Die blauen Schwingen des Jüngeren blockierten den Angriff eines Mädchens, während der Fährtensucher die seinen auch beim Spiel eng an den Rücken gepresst hielt.

„Ihr solltet aufpassen, dass es niemand sieht", riss Saras Stimme Michaelas Aufmerksamkeit weg von dem Engel mit den grauen Federn. „Wovon sprichst du, Gildendirektorin?" „Ihr seht Dariel an, wie ich meinen Mann ansehe, wenn er mit Zoe spielt", die junge Frau lächelte wissend, „noch fällt es nur einem geübten Jäger auf, aber wenn Ihr nicht wollt, dass es jeder Sterbliche oder Unsterbliche sieht, dann solltet Ihr das Verlangen nicht so deutlich zeigen."

Michaela wollte gerade zu einer bissigen Antwort ansetzen, als der Fährtensucher für einen kurzen Augenblick seine Flügel ausbreitete, um die Balance bei einer raschen Drehung zu halten. Sie waren nicht einfach nur grau! Bevor sie mehr oder gar alles sehen konnte, hatte er sie bereits wieder eng an den Körper gepresst.

Sara schmunzelte. Wenn sie Elena erzählte, dass der Erzengel von Zentraleuropa Dariel mit offenem Mund beim Spielen mit den Kindern beobachtet hatte, würde ihre beste Freundin das niemals glauben. Vielleicht aber doch, denn immer noch schoss der eine oder andere Passant im Vorbeigehen Fotos von der schönsten Frau der Welt. Berühmt und verehrt zu sein hatte ganz offensichtlich auch seine Schattenseiten, denn man war keine Sekunde unsichtbar. Die Gildendirektorin konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Deacon und sie auf Schritt und Tritt von Paparazzi verfolgt werden würden.

„Wollt Ihr auch einen Kaffee, Lady Michaela?", erkundigte sich die Jägerin, während sie das Gewicht ihrer Tochter auf die andere Seite verlagerte. Deutlich leiser fügte sie hinzu: „Ihr seht aus, als könntet Ihr eine kleine Ablenkung vertragen." Hastig blinzelte Michaela und wandte den Blick von dem lachenden Fährtensucher mit den wunderschönen Flügeln ab.

Der weibliche Erzengel folgte der Direktorin der Jägergilde zu einem kleinen Kaffeestand. Bei ihrem Anblick wäre der Verkäufer beinahe in Ohnmacht gefallen, als er sich etwas gefangen hatte, bestand er darauf beide Frauen auf ein Getränk ihrer Wahl einzuladen. Man musste Sara Haziz zugutehalten, dass sie ihre ernste Miene aufrecht hielt, bis sie in sicherer Entfernung zu dem Mann waren. Lachend setzte sie Zoe am Rand einer Sandfläche ab.

Das hinreißende kleine Mädchen vergrub beide Hände im von der Sonne warmen Sand. Michaela legte den Kopf zur Seite: „Deine Tochter ist eine geborene Jägerin. Fürchtest du dich vor dem Tag, an dem sie zum ersten Mal auf die Jagd geht?" Die andere Frau musterte ihr Gegenüber aus großen braunen Augen, bevor sie antwortete: „Davor habe ich größere Angst, als Ihr Euch jemals vorstellen könnt."

„Sie wird niemals einsam sein", für einen kurzen Moment huschte der Blick des weiblichen Erzengels zu Dariel, „alle Jäger werden auf sie achten und auch einige Engel." Ein Lächeln schlich sich auf Saras Lippen: „Sie wird sich niemals heimlich mit einem Jungen treffen können. Ihr Vater ist der Henker. Eine ganze Schar von Jägern ist ihre Familie. Die Sieben sind ihre besten Freunde. Ihr Onkel ist der Erzengel von New York und ihre Tante der Jägerengel."

Aufmerksam hörte Michaela der Auflistung zu und kam nicht umhin festzustellen, dass Dariels Name nicht gefallen war. Grinsend nippte die Jägerin an ihrem Kaffee. „Zoe hat vor ihn zu heiraten, wenn sie groß genug ist", stelle Sara fest. Überrascht hob der weibliche Erzengel eine Augenbraue. „Er ist ihr geflügelter Held. Selbst Illium und Raphael stehen bei Zoe nicht so hoch im Kurs, wie er. Wenn Ihr also Interesse an Dariel habt, dann rechnet damit, dass meine Tochter Euch Konkurrenz machen wird."

Ein Lächeln lag auf Michaels Lippen. Es war durch und durch echt. Mit einer fließenden Bewegung zog sie eine Feder, welche sie ohnehin in den nächsten Tagen verloren hätte, aus ihrem Gefieder. „Ich werde mir deinen Rat zu Herzen nehmen, Gildendirektorin", murmelte der weibliche Erzengel, während sie neben dem Mädchen in die Knie ging. Die Augen der Kleinen leuchteten auf, als ihre Finger sich um die bronzefarbene Feder schlossen.

EngelsfährteOnde histórias criam vida. Descubra agora