Kapitel 18

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Flügelspitze an Flügelspitze flogen Michaela und Dariel über New York. Zusammen mit Raphael und Elena hatten sie den Plan des Fährtensuchers verfeinert, die Gildendirektorin um Hilfe ersucht und die notwendigen Gerüchte in die Welt gesetzt. Das Netz war gespannt, nun brauchte ihre Beute den Köder nur noch zu schlucken. Der Engel an ihrer Seite war zuversichtlich und die anderen vertrauten in seine Fähigkeiten.

Mit jeder verstreichenden Minute neigte sich Michaelas Zeit in Amerika weiter dem Ende zu. Wenn es ihnen gelang, ihren heimlichen Verehrer aufzuspüren und über ihn zu richten, würde sie nach Budapest zurückkehren müssen. Zwei Erzengel konnten sich nur im begrenzten Rahmen auf dem gleichen Territorium aufhalten, bevor ihre Kräfte kollidierten, und in diesem Fall war sie der Eindringling auf Raphaels Gebiet.

All die Mauern, die er in den letzten Tagen mühsam eingerissen hatte, bauten sich vor seinen Augen Stück für Stück wieder auf. Aus Mika war im Verlauf des Gesprächs mit dem Sire wieder Lady Michaela, der Erzengel von Zentraleuropa, geworden. Selbst in ihrem Kopf bildeten sich Schutzschilde, die er nicht einfach umgehen konnte. Sie zog sich vor ihm zurück und das gefiel dem Fährtensucher nicht.

Im Flug streckte er die Hand nach ihrem Flügel aus, doch bevor er sie berühren konnte, hatte sie sich bereits zur Seite gedreht. Fest biss er die Zähne aufeinander. Klarer hätte das Signal nicht sein können, doch Dariel dachte nicht im Traum daran, dem stummen Befehl Folge zu leisten. Er hatte die Frau hinter dem Erzengel gesehen und er würde ihren Rückzug nicht akzeptieren.

Eng zog er die Flügel an den Rücken und ließ sich fallen. Michaela flog ein Stück unter ihm. Ehe sie sich versah, traf sein Körper auf ihren. Seine Arme legten sich um ihre Taille, während ihr Rücken und damit auch ihre Schwingen gegen seine Brust gedrückt wurden. Eingeschränkt in ihrer Bewegung war es unmöglich, das gemeinsame Gewicht am Himmel zu halten. Mit einem Mal fiel der weibliche Erzengel und konnte nichts dagegen tun.

Der Boden kam rasend schnell näher. Dächer wurden größer, Autos waren klarer zu erkennen. Menschen sahen zu ihnen auf, doch Dariel hatte sich gedreht so, dass niemand die Frau in seinen Armen identifizieren konnte. Erst kurz bevor sie auf dem Boden aufschlugen, breitete er seine Gewitterwolken-Flügel aus und schoss wie ein Blitz zwischen den Hochhäusern hindurch.

Lass mich los. Ihre kalte und dennoch verführerische Stimme drängte sich in seinen Kopf. Der schwere Geruch nach Rosen und bestem Honig vernebelte ihm die Sinne, während ihre Macht in Funken auf ihn übersprang. Es kribbelte und verletzte ihn doch nicht. Sprich mit mir, Mika.

Schweigen in seinem Kopf. Wieder schloss er die Flügel und sie fielen. Er konnte spüren, wie sich die Muskulatur unter den bronzefarbenen Federn anspannte, doch er hielt Michaela weiter fest umschlungen. Zwischen zwei Taxis schossen sie hindurch, bevor Dariel sie wieder dem Himmel entgegentrug. Es gibt nichts, worüber wir sprechen müssten.

Diesmal konnte Michaela ein paar Sterbliche überrascht nach Luft schnappen hören, als sie in Dariels Armen dem Boden entgegenstürzte. Was für ein Bild sie für die Bewohner von New York abgeben mussten? Ob man sie bereits erkannt hatte? Nein, denn der Fährtensucher verbarg sie mit seinem Körper vor den Blicken der Welt. Wieder sorgte er für sie, als wäre sie nicht eines der mächtigsten Wesen dieses Planeten, sondern eine gewöhnliche Frau.

In ihrem Kopf tobte ein Gewittersturm, den selbst ihre neuen Schilde nicht aussperren konnten. Wenn sie ehrlich war, wollte sie auch nicht, dass er verschwand. Blitze entluden sich in ihren Gedanken, als sie ein weiteres Mal fielen. Michaela konnte spüren, dass Dariel Spaß daran hatte mit ihr im Arm über die Stadt zu fliegen. In den Mauern bildeten sich feine Risse. Es bröckelte an jenen Stellen, die sie mühsam wieder zusammengefügt hatte.

Mit einem Seufzen gab Michaela nach und ließ den Schild fallen. Dariels Kraft flutete ihren Kopf. Der Duft von frischem Regen stieg ihr in die Nase, während Donner durch ihre Gedanken grollte. Das Brechen ihres Widerstands blieb ihm nicht verborgen. Augenblicklich bremste der Fährtensucher ihren Fall ab.

Auf einer kleinen Brücke abseits der großen Wege des Central Parks landete er. Seine Arme lösten sich gerade so weit von ihrer Taille, dass sich Michaela zu ihm umdrehen konnte. „An einem derart öffentlichen Ort kann ich nicht Mika sein", gestand sie mit einem müde wirkenden Kopfschütteln.

Der Blick seiner türkisblauen Augen hielt den ihren gefangen. Ohne zu zögern, hob er seine Gewitterwolken-Flügel an und schloss sie darin ein. Michaela fand sich in einem schützenden Kokon aus wunderschönen, weichen Federn wieder. Ihre Schwingen lagen innen an seinen an. Niemand würde einen Blick auf den Bronzeton erhaschen können. Wenn jemand an ihnen vorüberging, sahen sie nur ihn. Nur den Fährtensucher, der ganz offen für einen Erzengel sorgte.

Warum ziehst du dich vor mir zurück, Mika?, wieder grollte seine Stimme wie Donner in ihrem Kopf, ich kann die Mauern sehen und die Schilde in deinem Kopf spüren. Natürlich konnte er das. Obwohl seine Fähigkeiten einen anderen Ursprung hatten, war Dariel schon immer aufmerksamer gewesen, als gut für ihn war. Ihm nicht die Wahrheit zu sagen, widerstrebte dem weiblichen Erzengel.

Ich werde nach Europa zurückkehren. Meine Zeit in New York ist begrenzt. Hellgrüne Augen sahen zu ihm auf. Ein Schatten nahm ihnen den sonst so strahlenden Glanz. Wenn ich gehe, wirst du mich nicht begleiten. Du bist deinem Sire gegenüber loyal. Es würde uns beide verletzen, wenn ich dich dennoch darum bitte. Ich versuche, dich zu schützen.

Tatsächlich war Dariel dieser Gedanke ebenfalls gekommen. Michaela konnte nicht bleiben. Es würde Europa ins Chaos stürzen, wenn der herrschende Erzengel nicht präsent war. Außerdem würde es Raphael gegen sie aufbringen. Eine Sache musste jedoch richtiggestellt werden. Gilt dein Schutz tatsächlich nur mir?

Zärtlich legte er eine Hand an ihre Wange. Wieder hatte er ihre Lüge enttarnt. Ihre Finger gruben sich in den Stoff seines T-Shirts. In Budapest wartet nichts als Einsamkeit und Leere auf mich, während hier eine ganze Armee an Freunden hinter dir steht und dich auffängt, wenn du fällst.

Die Wahrheit wog schwer wie Steine. Selbst an ihrem Hof in Budapest war Michaela trotz all der Anwesenden immer alleine und unnahbar. Diese Position hatte sie sich in den Jahren ihrer Herrschaft aufgebaut. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass es einen anderen Weg geben könnte. Einen Weg, der einen Erzengel stärker aber dennoch weniger einsam machte.

Ich wünschte, es wäre anders, gestand Michaela, ich wünschte, ich müsste nicht gehen. Der Schatten in ihrem Gesicht zerstörte das perfekte Bild, welches sie der Öffentlichkeit so gerne zeigte. Vor seinen Augen und verborgen vor dem Rest der Welt, veränderte sich etwas im Kern des weiblichen Erzengels. Noch haben wir Zeit. Sperr mich nicht aus, Mika.

Gefangen im sicheren Kokon seiner Gewitterwolken-Flügel und geschützt vor den Blicken der Welt ließ der weibliche Erzengel zum ersten Mal in zweitausend Jahren alle Schilde fallen. Es brannte auf ihren Wangen, als die erste Träne über ihr schönes Gesicht lief. Noch nie hatte Michaela geweint. Eine solche Gefühlsregung war durch und durch sterblich, einem Kadermitglied unwürdig.

Die Träne tropfte von ihrem Kinn auf Dariels T-Shirt. Sie spürte, wie sich sein Körper anspannte. Natürlich erkannte der Fährtensucher, was in diesen Tagen in New York mit ihr geschehen war. Der Erzengel von Zentraleuropa, die Hohepriesterin von Byzanz und Königin von Konstantinopel war durch ihn ein klein wenig sterblich geworden.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now