Kapitel 11

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Die Sonne kroch gerade mühsam den Himmel empor und färbte diesen rosa, als Michaela am nächsten Morgen erwachte. Für einen kurzen Moment starrte sie desorientiert zur Decke. Ein Seufzen entwich ihr, während sie die Flügel streckte.

Vor Jahrhunderten hatte ein Sterblicher das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Engel nicht träumen konnten. Das war eine Lüge. Natürlich brauchte der weibliche Erzengel weit weniger Schlaf, als jeder Mensch oder Vampir, doch wenn sie schlief, dann träumte sie. Meistens waren es Albträume. Vor allem in der Zeit nach Uram hatten sie einen giftigen Schimmer aufgewiesen.

Ihr ehemaliger Geliebter war jedoch längst aus ihren Träumen verschwunden. In den letzten Wochen hatten sie die Sterblichen heimgesucht, die ihr als Geschenk überbracht worden waren. Auch in dieser Nacht war sie einmal erwacht, weil Bilder des gesplitterten Körpers der jungen Frau in ihrem Kopf aufgetaucht waren. Obwohl die Welt es gerne glaubte, war sie nicht gefühllos.

Wieder streckte Michaela ihre Flügel. Sie kribbelten. Nicht die Toten waren es, die dieses Gefühl in ihr auslösten. Das war er. Der Fährtensucher hatte es in ihren Kopf und in ihre Träume geschafft. Träume, in denen er sie küsste und ihre Flügel berührte. Eine raue Stimme, die den weiblichen Erzengel bei diesem lächerlich amerikanischen Spitznamen nannte. Türkisblaue Augen, die ihr in die Seele blickten und nicht davor zurückschreckten, was sie war.

Frustriert stieß sie die angehaltene Luft zwischen den Zähnen hervor. Noch nie hatte sich Michaela in einer solchen Lage befunden. Wenn sie einen Mann in ihrem Bett hatte haben wollen, dann hatte sie mit den Fingern geschnippt und der Auserwählte war freiwillig zu ihr gekommen. Niemand hatte sich ihr je widersetzt oder sich geziert.

Das Verlangen nach einem einzigen Mann war noch nie so groß gewesen. Männer waren Austauschware für sie. Sterbliche, Vampire, Engel, Erzengel, wen kümmerte das schon? Es war immer nur um Macht und Sex gegangen. Selbst ihre Beziehung mit Uram hatte nur so lange Bestand gehabt, weil er ihr jeden Wunsch erfüllt hatte. Die Grenzen auflösen, um Michaelas Einflussgebiet zu vergrößern? Kein Problem! Ihre Widersacher aus dem Weg räumen? Auf der Stelle! Nein, sie hatte keine tiefen Gefühle für den anderen Erzengel gehegt. Uram war ein gut aussehendes Mittel zum Zweck gewesen. Er hatte sie davon abgehalten, in der Eintönigkeit ihres unsterblichen Lebens zu versinken.

Lachen schallte durch ihren Kopf. Graue Flügel, deren wirkliche Farbgebung vor ihrem Blick verborgen wurde. Widerworte und Befehle von einem Engel, der nicht einmal halb so alt oder annähernd so mächtig war, wie sie. Ein Kuss, der ihre Federn in Brand gesteckt hatte. Dariel würde niemals eintönig oder berechenbar werden.

Ruckartig richtete sich Michaela auf. „Genug!", fauchte sie sich selbst an. Sie musste diesen Engel aus ihrem Kopf bekommen. Er sollte den verfluchten Fall aufklären, dann konnte sie endlich nach Budapest zurückkehren. Zurück auf ihren Kontinent, zurück in ihre Routine. Weg von ihm. Dariel war Raphaels Fährtensucher. Nicht mehr und nicht weniger.

Kaum hatte sie diesen Gedanken beendet, vernahm ihr feines Gehör ein Klirren außerhalb des Schlafzimmers. Jemand befand sich auf ihrem Stockwerk! Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, glitt Michaela aus dem Bett. Bronzenes Engelsfeuer leckte an ihren Fingern. Es verbrannte sie nicht, da es ein Teil von ihr war. Wer immer sich ungefragt Zugang zu ihrer Suite verschafft hatte, würde weniger Glück haben.

Beinahe lautlos schlich sie durch das große Wohnzimmer. Niemand war zu sehen. Ihr Blick fiel auf die geöffnete Balkontüre. Michaela hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie am vergangenen Abend zu schließen. Die Vorhänge flatterten im Wind. Ein Schatten bewegte sich und das Engelsfeuer in ihrer Hand wuchs. Gerade als sie es loslassen wollte, um den Eindringling zu vernichten, tauchte eine graue Feder in ihrem Blickfeld auf.

EngelsfährteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt