Kapitel 9

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Auf dem Dach des Erzengelturmes machten sich Raphael und Elena für ihren abendlichen Flug zurück zu ihrem Haus in der Engelsenklave fertig, als Dmitri mit ernstem Gesicht zu ihnen trat. Wie immer wenn sie den Vampir sah, konnte sich die Gildenjägerin einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. „Sind dir die Blutkonserven ausgegangen?", erkundigte sie sich mit hochgezogener Augenbraue und einem gespielt reizenden Lächeln. Der mächtigste Vampir von New York City verzog die vollen Lippen zu einem Grinsen, das seine Fangzähne entblößte: „Bietest du dich mir als Nahrungsquelle an, Jägerin?"

Für gewöhnlich ließ der Erzengel seine Gemahlin und den Anführer seiner Sieben ihr Katz-und-Maus-Spiel ungestört abhalten, denn er wusste, dass die beiden sich im Kampf jederzeit gegenseitig mit dem Leben schützen würden, doch Raphael kannte Dmitri. Der Vampir würde sie so spät abends und kurz vor dem Heimweg nicht mehr belästigen, wenn nicht etwas geschehen wäre. „Was ist passiert?", erkundigte sich der Erzengel und legte seine Hand dabei auf Elenas unteren Rücken.

Der Ausdruck im Gesicht des Vampirs, der bereits in unzähligen Schlachten an Raphaels Seite gekämpft hatte, wurde wieder ernst. „Ich habe von mehreren Engeln, Vampiren und Jägern Berichte erhalten, dass Michaela Dariel in der Luft verfolgt", seine Stimme verriet, dass auch er nicht der größte Fan des weiblichen Erzengels war, „sie befinden sich derzeit über Lower Manhattan."

Raphaels Macht ließ seine Flügel wie weißes Feuer aufleuchten: „Wenn sie ihn verletzt, provoziert sie einen Krieg. Das weiß sie." Elena presste die Flügel eng an den Rücken und trat auf den Herrscher von New York zu: „Du bist schneller. Du fliegst. Lass uns nachsehen." Dmitri hatte gerade noch die Möglichkeit zurückzutreten, dann befand sich der Erzengel zusammen mit seiner Gefährtin in der Luft.

Während er sie in atemberaubender Geschwindigkeit über den Himmel in Richtung Lower Manhattan flog, legte Raphael seinen Zauber über sie. Diese besondere Fähigkeit machte sie unsichtbar für die Augen anderer. Keiner konnte den Erzengel und seine Gefährtin in diesem Zustand sehen, auch nicht Michaela. Sollten sich die Meldungen aus unerklärlichen Gründen als falsch erweisen, würde sie niemals erfahren, dass Raphael sie verdächtigt hatte, ihr Wort zu brechen.

Elena entdeckte die Gewitterflügel ihres Fährtensuchers und Freundes zuerst. Dariel raste mit kräftigen Schlägen von den Dächern der Hochhäuser auf eine Wolke zu. „Da ist Michaela", mit einer Hand deutete die Jägerin auf die bronzenen Schwingen, die im Licht des Sonnenuntergangs aussahen, als würden sie in Flammen stehen. Ein schöner aber durchaus auch tödlicher Anblick. Der weibliche Erzengel flog einen Bogen und stürzte sich ebenfalls in die Wolke und damit außer Sichtweite.

Für einen kurzen Moment waren beide Engel verschwunden, dann fiel der Fährtensucher. Ein Aufschrei entwich der sonst so abgehärteten Jägerin. Raphaels Macht flammte auf und verwandelte seine Flügel in weißes Feuer. Bereit Dariel aufzufangen, bevor dieser auf den Dächern der Stadt aufschlug, schoss der Erzengel dem Jüngeren entgegen.

Vor ihren Augen stürzte sich nun auch Michaela aus der Wolke. Die bronzefarbenen Flügel waren eng an den Rücken angezogen, um während des Falls möglichst viel Tempo aufzubauen. Ihre langen Haare flatterten im Wind, denn offenbar konzentrierte sie sich in diesem Moment nicht darauf perfekt auszusehen. Immer schneller wurde sie und hielt direkt auf den rückwärts fallenden Dariel zu.

Raphaels Hand ballte sich zur Faust und füllte sich mit Engelsfeuer. Es war nicht so hoch dosiert, dass es den weiblichen Erzengel töten würde, doch nach diesem Treffer würde sie seinen Fährtensucher nicht länger verfolgen können. Gerade als er auf sie zielen wollte, streckte Michaela die Hand aus. Fast schon vorsichtig berührte sie Dariels Brust, zog im gleichen Moment die Flügel noch enger an den Körper, rollte sich zur Seite und schoss davon.

Das Engelsfeuer in Raphaels Hand verpuffte im Nichts, als der andere Engel die Gewitterwolken-Flügel ausklappte und der Königin von Konstantinopel in rasendem Tempo folgte. Völlig perplex sahen Raphael und seine Gemahlin dabei zu, wie Dariel Michaela über den Himmel jagte. Elena räusperte sich, bevor sie ihre Stimme wiederfand: „Also das war nun wirklich etwas unerwartet."

Der Erzengel von New York löste seinen Blick von dem unerklärlichen Schauspiel am Himmel. „Das war die Untertreibung des Jahrtausends, Gildenjägerin", obwohl sein Gesicht äußerlich nichts verriet, konnte Elena Raphael in ihrem Kopf lachen hören, „in meinem ganzen Leben habe ich noch nie gesehen oder auch nur davon gehört, dass Michaela mit jemandem spielt."

Nachdenklich legte die Jägerin den Kopf zur Seite: „Denkst du wir müssen uns Sorgen um mein Gewitterwölkchen machen? Immerhin ist die Frau, mit der er spielt die Königin der Biestigkeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Michaela ernsthaftes Interesse an ihm haben könnte. Bestimmt will sie ihre Sammlung an männlichen Eroberungen mit ihm vergrößern und lässt ihn danach einfach fallen."

Raphael konnte die Sorgen seiner Gemahlin durchaus nachvollziehen. Michaela war nun wirklich nicht für ihre Treue bekannt. „Dariel ist ein erwachsener Engel. Wenn er sich mit ihr einlässt, ist es seine Entscheidung. Wir können nichts weiter tun, als zu hoffen, dass sein Herz unbeschadet aus diesem Treffen herauskommt", stellte der Erzengel fest.

Seufzend wandte Elena den Blick ab und verfolgte mit den Augen erneut die Jagd am Himmel über New York. In diesem Moment glitten Dariels Finger über Michaelas rechten Flügel und zogen an einer ihrer Haarsträhnen, bevor er blitzschnell die Richtung änderte, um zu fliehen. Der weibliche Erzengel nahm, ohne zu zögern, die Verfolgung auf. Als sie für einen Augenblick in Elenas Richtung sah, erkannte die Jägerin ein verspieltes aber vor allem ehrliches Lächeln auf dem schönen Gesicht.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now