Kapitel 5

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Einige Minuten später trat der weibliche Erzengel zurück auf den Balkon. Dariel stand mit dem Rücken zu ihr, bestimmt hatte er ihr Kommen dennoch gehört. „Erfülle ich deine Anforderungen, Fährtensucher?", ihre Stimme klang nun weniger schneidend. „Seid Ihr nackt?", erkundigte sich der jüngere Engel, ohne sich zu ihr umzudrehen.

Das herzhafte Lachen sandte angenehme Schauer über seinen Rücken, während es sich gleichzeitig anfühlte, als würde sie mit den Fingern den empfindlichen Bogen seines Flügels nachfahren. „Wäre das so schrecklich?", wieder trat sie einen Schritt näher, „andere Männer würden für diesen Anblick töten." „Ich bin nicht wie andere Männer", stellte der Fährtensucher klar. Seine grauen Flügel wirkten noch enger an den Körper gepresst als zuvor.

„Nein, das bist du gewiss nicht", bestätigte Michaela, während sie noch näher trat. Ohne nachzudenken, streckte der weibliche Erzengel die Hand aus. Dariels Federn sahen so unglaublich weich aus. Ob sie sich auf ihrer Haut auch genauso anfühlten? Kurz bevor ihre Finger die graue Mauer berührten, rief sie sich wieder zur Ordnung. Statt auf seinen Flügel legte sie die Hand auf seine Schulter: „Sieh mich an, Dariel."

Ein höflicher aber doch klarer Befehl. Diese Frau war es nicht gewohnt, dass man ihr nicht Folge leistete. Alles in ihm lehnte sich dagegen auf, kommentarlos ihre Anweisung auszuführen, doch Dariel zwang seinen Stolz in die Knie. Langsam drehte er sich zu ihr um. Türkisblau traf auf helles Grün. Fast hätte er überrascht nach Luft geschnappt.

Der Engel vor ihm war immer noch Michaela, doch so hatte die Welt sie bestimmt noch nie zu Gesicht bekommen. Ihre langen Haare waren zu zwei einfachen Zöpfen geflochten, die unter der Kapuze eines schwarzen Pullovers hervorlugten. Das Kleidungsstück war ihr mehrere Nummern zu groß und versteckte jede einzelne Kurve. Die langen Beine wurden von einer dunkelblauen Jean bedeckt und statt ihren hohen Schuhen trug sie schwarze Sneaker. Hinzu kamen die nassen Flügel, die in der Finsternis beinahe braun wirkten.

„Ihr...", Dariel fehlten die Worte. „Ich sehe aus wie eine Kopie von Raphaels Jägerin", grummelte der weibliche Erzengel und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein Lächeln schlich sich auf die Lippen des Fährtensuchers: „Tragt Ihr Messer am Körper?" Ehe Michaela ihm antworten konnte, hatte er sich auch schon rückwärts vom Balkon fallenlassen.

Dieser Mann trieb sie in den Wahnsinn! Mit kräftigen Schlägen ihrer Flügel folgte sie ihm. Ihre Federn waren schwerer als gewöhnlich, doch Michaela war kein unerfahrener junger Engel mehr, genauso wenig wie Dariel. Immer wieder glitt der Fährtensucher an ihr vorbei. Mal sauste er nach oben, mal stürzte er dem Boden entgegen. Wie konnte man mit knapp sechshundert Jahren derart kindisch sein?

Wieder rauschte er an ihr vorbei. Die äußersten Federn seiner Schwingen streiften ihren linken Flügel, während ihr der Geruch nach Gewitter in die Nase stieg. Der Balkon, auf dem wir landen werden, ist sehr schmal. Haltet Euch so, dass ich Eure Flügel vor möglichen Schaulustigen schützen kann.

Wenige Augenblicke später klopfte Dariel gegen eine Balkontüre. Michaela hielt sich wie befohlen im Hintergrund. Wer von der Straße hochblickte, entdeckte nur einen einzelnen Engel. Der Fährtensucher hatte nicht gelogen, auf dem Balkon war kaum Platz für zwei geflügelte Wesen. Ganz gleich wie eng sie ihre Flügel anlegte, immer wieder streiften sie über seinen Arm.

Die Türe öffnete sich und ein großer, gut gebauter Mann mit langen Haaren trat zu ihnen hinaus. „Gewitterwölkchen", begrüßte er Dariel lachend und griff nach dessen Unterarm. Eine Begrüßung zwischen Kriegern, wie Michaela wusste, doch es war der Spitzname, der ihre Aufmerksamkeit fesselte. Bestimmt hatte Dariel nicht gewollt, dass sie diesen erfuhr.

Während der Fährtensucher mit dem Gildenjäger namens Ransom Informationen austauschte, schwieg Michaela. Natürlich hatte der Sterbliche sie bemerkt, doch er hatte ihre Anwesenheit auf seinem Balkon nicht infrage gestellt, genauso wenig wie die Tatsache, dass ihre immer noch nassen Federn weiterhin Dariels Arm berührten. Ob der Engel es überhaupt bemerkte?

Vorsichtig streckte sie ihren Flügel einwenig. Braucht Ihr mehr Platz?, erkundigten sich die Gewitterwolken in ihren Gedanken. Ob der Jäger ihn deshalb so nannte? Vermutlich nicht, denn Michaela bezweifelte, dass Dariel mit dem Sterblichen auf die gleiche Weise kommunizierte, wie mit ihr. Gekonnt ignorierte sie die Stimme in ihrem Kopf und zog ihren Flügel wieder zurück. Als seine Finger dabei über die Federn auf der Rückseite strichen, wäre ihr beinahe der Mund offen stehen geblieben.

Dariel rechnete fest damit, dass der weibliche Erzengel ihm die Hand verbrennen würde. Zwar hatte sie mit dem Spiel angefangen, doch er hatte es mit der absichtlichen Berührung ihrer Flügel auf eine andere Stufe gehoben. „Ich werde mich für dich umhören", versprach Ransom, doch Dariels Gedanken kreisten nur mehr um das Gefühl von Michaelas weichen Federn auf seiner Haut. Wieder glitten seine Finger unauffällig über die Rückseite und wieder geschah nichts.

„Ich werde den Mädchen sagen, dass sie die Augen offenhalten sollen. Bist du sicher, dass du mir nicht sagen kannst, worauf genau sie achten müssen?", sprach der Jäger weiter. „Du weißt, dass das nicht geht", verneinte der Fährtensucher, während er ein weiteres Mal über ihre Flügel streichelte, „sag ihnen, dass sie es ernst nehmen müssen, wenn sie sich beobachtet fühlen. Lieber rücke ich einmal zu oft aus, als einmal zu wenig."

Warum ließ sie es zu? Unaufhörlich glitten seine Finger über ihre Federn und zogen brennende Spuren. Eine solche Berührung war nur unter intimen Partnern üblich. Vielen ihrer früheren Liebhaber hatte Michaela es nie gestattet, ihre Flügel zu berühren. Dazu war Vertrauen nötig und damit war der weibliche Erzengel sehr sparsam. Umso mehr überraschte es sie, dass keiner ihrer Selbstschutzmechanismen ansprang und Dariel die Hand verbrannte.

Nachdem Ransom und der Fährtensucher ihr Gespräch beendet hatten, wandte sich der Jäger zum ersten Mal an Michaela: „Ich hätte nie gedacht, dass ich hier einmal mit Euch stehen würde." Obwohl er ein Sterblicher war, sah er ihr direkt in die hellgrünen Augen. Der Mann hatte Mut oder keinen Sinn für Selbsterhaltung. „Dariel ist der Beste auf seinem Gebiet. Wer immer es ist, der Euch Probleme macht, er wird ihn finden."

Mit einem höflichen Nicken nahm der weibliche Erzengel die Worte des Jägers zur Kenntnis. Die Ruhe und Gelassenheit, die Michaela an diesem Abend und bei dieser Unterhaltung an den Tag gelegt hatte, machte den Fährtensucher nervös. Geborene Jäger wie Ransom oder auch Elena hatten ohnehin einen niedrigen Selbsterhaltungstrieb, doch den Blick eines Kadermitglieds derart offen zu erwidern war wirklich nicht ratsam. Für niemanden.

„Du gibst mir Bescheid, sobald du etwas Neues hörst. Jedes noch so kleine Gerücht", bat Dariel seinen sterblichen Freund. „Klar", mit einem Nicken unterstrich Ransom seine Antwort. Der Fährtensucher fasste den Jäger erneut auf Kriegerart am Unterarm: „Danke mein Freund." Wieder nickte der andere Mann und wandte sich dann dem Erzengel zu: „Es war mir eine Freude, Lady Michaela. Das glauben mir meine Jägerkollegen nie! Der Erzengel von Zentraleuropa auf meinem Balkon." Lachend öffnete er die Türe.

Man musste Ransom zugutehalten, dass er sich nach der Verabschiedung von dem kleinen Balkon zurückzog, um den beiden Engeln mehr Platz für ihren Abflug zu bieten. Durch das Fenster konnte Dariel beobachten, wie der Jäger sich neben seiner Freundin auf das Sofa im Wohnzimmer fallen ließ. Auch Michaela hatte diesen Ablauf beobachtet, besonders den Blick auf Ransoms Gesicht, der beim Anblick der anderen Frau weich geworden war.

„Heute Nacht können wir nicht mehr viel ausrichten. Ich bringe Euch zurück zu Eurer Suite", schlug Dariel vor. Der weibliche Erzengel verrenkte sich beinahe den Hals bei dem Versuch, den Fährtensucher anzusehen, ohne sich dabei zu ihm umzudrehen. „Hast du Angst, dass ich mich in der Stadt deines Sires verirren könnte?", konterte Michaela schnippisch und zog dabei die Flügel noch enger an den Rücken, „oder erhoffst du dir, dass ich dir weiterhin gestatte meine Federn zu streicheln?"

EngelsfährteWhere stories live. Discover now