Kapitel 22

732 62 0
                                    

Panisch schickte Michaela schwache Wellen ihrer Energie aus. Diesmal nicht, um zu zerstören, sondern um ihn zu finden. Sie musste wissen, dass er lebte. Der Engel, der sie selbst in der Stille hatte erreichen können. Ihre Flügel zitterten vor Angst. Dariel!, Verzweiflung schwang in ihrer geistigen Stimme mit. Er war schnell. Er musste der Zerstörung entkommen sein. Sie durfte ihn nicht getötet haben.

Eine Gewitterfront zog in ihrem Kopf auf. Donner grollte durch ihre Gedanken und der Geruch nach Regen stieg ihr in die Nase. Sofort zuckte ihr Blick zum Himmel, wo sich die Welle ihrer Macht an seinen einzigartigen Schilden brach. Da war er! Wunderschöne, einmalige Flügel zeichneten sich hinter der Wolke aus Staub ab und mit ihnen ein Schatten, der deutlich machte, dass Dariel auch die beiden Jäger hatte retten können.

Beinahe wäre Michaela vor Erleichterung in die Knie gegangen. Ihre Beine fühlten sich wackelig an, als könnten sie ihr Gewicht nicht länger tragen. Tränen brannten in ihren Augen, während der Fährtensucher unweit von ihr landete. Mühsam rang sie um ihre Fassung. Sie war ein Erzengel. Obwohl sie nichts lieber wollte, als sich in seine Arme zu werfen und seine wundervollen Lippen zu küssen, musste sie für den Rest der Welt die Kontrolle behalten.

Elena landete stolpernd und unelegant vor ihrem Gewitterwölkchen. Sowohl die Gildendirektorin als auch der männliche Jäger wurden von ihr in eine kräftige Umarmung gezogen. Die beiden Sterblichen sahen ein wenig mitgenommen aus, doch äußerlich waren sie unverletzt. Vermutlich war das auch der einzige Grund, warum der Jägerengel dem weiblichen Erzengel noch kein Messer an die Kehle hielt.

Eine salzige Meeresbrise drängte sich in Michaelas Kopf. Wir werden darüber sprechen müssen, aber das kann warten. Geh jetzt. Obwohl es Raphael nicht zustand ihr Befehle zu erteilen, folgte der weibliche Erzengel diesem sofort. Mit kräftigen Schlägen ihrer bronzefarbenen Flügel erhob sie sich in die Luft. Dass Dariel ihr folgte, wusste sie, ohne sich zu ihm umdrehen zu müssen.

Erst als sie auf dem Balkon ihrer Suite im Turm gelandet waren, gab Michaela dem inneren Drang nach. Ihre Hände legten sich auf seine Wangen und zogen seinen Kopf zu ihr herab. Kaum hatten ihre Lippen die seinen berührt, glitt ihre Zunge in seinen Mund. Dariel ließ sich von dieser mächtigen und gefährlichen Frau küssen, während seine staubigen Flügel sie vor der restlichen Welt verbargen.

Wieder und wieder trafen ihre Zungen aufeinander. Ihre Hände strichen vorsichtig über seine breiten Schultern, die Brust und die Innenseite seiner Flügel. „Bitte verzeih mir", hauchte sie mit zittriger Stimme direkt an seinen Lippen. Immer noch suchten ihre Finger nach äußerlichen Verletzungen. Die Angst davor, diese Grenze in der Stille überschritten zu haben, schnürte dem weiblichen Erzengel langsam aber sicher die Luft ab.

Schließlich war es Dariel, der sich von ihr löste. „Es geht mir gut", versicherte er, während er ihre zitternden Hände einfing. Sanft zog er daran und dirigierte sie in die Suite. Sie ließ es geschehen. Ihre hellgrünen Augen ertranken beinahe in ihrer Verzweiflung und den ungeweinten Tränen: „Ich hätte dich töten können. Es war mir egal. Ich wollte es sogar. Für einen kurzen Augenblick wollte ich, dass du stirbst."

Zärtlich und doch besitzergreifend legte er eine Hand in ihren Nacken. „Du hast es nicht getan. Das ist es, was zählt. Du bist stärker als die Stille, Mika", flüsterte Dariel, während er sie wieder an sich zog. Ihre Finger klammerten sich nach Halt suchend an sein angesengtes, staubiges T-Shirt. Die bronzefarbenen Flügel streiften über den Boden. Vor ihm musste sie den Schein nicht mehr wahren. Der Fährtensucher wusste längst, dass sie nicht perfekt war.

Nachdem sie für einige Sekunden seinem regelmäßigen, kräftigen Herzschlag gelauscht hatte, rückte Michaela ein Stück von Dariel ab. „Bist du verletzt?", ihre Stimme klang immer noch brüchig. „Nein." Der Blick, in dem sich nun keine Spur von giftigem Grün befand, brannte auf seiner Haut. „Zieh dich aus", ordnete der weibliche Erzengel streng an.

Überrascht hob Dariel eine Augenbraue: „Schon wieder Befehle, Lady Michaela?" Zielsicher schob sie ihn in ihr Bad und schloss telekinetisch die Türe hinter ihnen. „Ich muss es mit meinen eignen Augen sehen", erklärte Michaela, „ich muss sehen, dass du nicht verletzt bist." Immer noch sah er die Angst im hellen Grün ihrer Augen.

Ohne zu zögern, zog sich der Fährtensucher das staubige T-Shirt mit einer fließenden Bewegung über den Kopf. Makellose, gebräunte Haut kam darunter zum Vorschein. Seine Finger öffneten den Gürtel. Ihr Blick folgte dem Stoff seiner zerrissenen Jeans, als diese zusammen mit seiner Unterwäsche zu Boden glitt. Keine Verletzung, nicht einmal ein kleiner Kratzer. Nur Staub und Dreck, der sowohl die wunderschönen Flügel, als auch die dunkelbraunen Haare bedeckte.

„Zufrieden?", erkundigte sich Dariel. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, denn Michaela hatte, ohne es bewusst zu wollen, die Hand nach ihm ausgestreckt. Ihre Finger zeichneten die Konturen seiner Bauchmuskeln nach. „Du bist unverletzt", stellte sie mit einer solchen Erleichterung fest, dass sie für seine Sinne als Fährtensucher physisch greifbar zu sein schien.

Seine Lippen trafen auf ihre. Diesmal war er es, der sie küsste. Seine Zunge eroberte ihren Mund. Unverletzt, aber voll mit Staub und Dreck. Dariel grinste in den Kuss, während seine Finger die Bänder ihres Oberteils öffneten. Du wirst mir wohl oder übel die Flügel waschen müssen, Mika. Immerhin ist das alles deine Schuld. Ihre Hose fiel zu Boden, als er den weiblichen Erzengel anhob und in die Dusche trug.

Die Tatsache, dass der Fährtensucher sie nach allem immer noch neckte, riss Michaela endgültig aus ihrer Starre. Dariel hatte keine Angst vor dem, was sie war. Im Gegenteil er spielte mit dem Wesen, das ihn und seine sterblichen Freunde um ein Haar getötet hätte. Er sah immer noch die Frau hinter der unendlichen Macht des Erzengels.

Während ihre Zunge mit seiner tanzte und ihre Finger sich in seinen Haaren vergruben, nutzte Michaela ihre telekinetischen Fähigkeiten, um das Wasser in einer angenehm warmen Temperatur anzustellen. Ihre Beine waren um seine Hüfte geschlungen. Sie spürte die Glaswand der Dusche in ihrem Rücken, als er sie dagegen presste. In dieser Position war es ihr unmöglich, ihre Flügel zu bewegen.

Ein Stöhnen entwich ihr, als Dariel in sie eindrang. Die eine Hand hielt ihre Hüfte fest umklammert, während er die andere in ihren langen Haaren vergrub. Diesmal wartete er nicht, bis sie sich an seine Größe gewöhnt hatte. Ohne zu zögern, stieß er wieder zu und genoss das Anspannen ihrer Muskeln um ihn.

Mit jedem Stoß zog sich die Stille weiter aus ihr zurück. Die Kälte ihrer unendlichen Kraft, verwandelte sich in brodelnde Hitze. Verlangen schwappte über das tödliche Engelsfeuer und erstickte es. Aus dem weiblichen Erzengel wurde eine Frau, die sich ihrem Mann hingab, ohne darüber nachzudenken, dass sie diesen zuvor beinahe vernichtet hätte.

Ein sanfter Zug an ihren Haaren zwang Michaela, den Kopf in den Nacken zu legen. Keine Sekunde später wanderten seine Lippen über ihren Hals, während sich seine andere Hand besitzergreifend auf eine Brust legte. „Ich teile nicht gerne, Mika", wisperte Dariel, bevor seine Zähne leicht über ihre Halsschlagader kratzten, „du wirst aufhören müssen, andere Männer in dein Bett zu lassen."

Ihr Verstand war kaum noch in der Lage, seine Worte zu verarbeiten. Jeder Stoß, jeder Kuss, jede Berührung brachte sie dem Abgrund näher. In diesem Moment hätte sie ihm alles versprochen. Der Fährtensucher schaffte es, dass sich die schönste Frau der Welt wie eine gewöhnliche Sterbliche fühlte. Eine merkwürdige Entwicklung, denn Michaela hätte nie gedacht, dass es das war, was sie tief in ihrem Inneren wollte. Zumindest nicht bis Dariel in ihr Leben getreten war.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now