Kapitel 16

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Die ersten Sonnenstrahlen des Tages tauchten den Himmel vor dem Fenster in unterschiedliche Farbtöne und erhellten das Schlafzimmer von Michaelas Suite. Dariels türkisblaue Augen ruhten auf einem der mächtigsten Wesen dieser Welt. In diesem Moment hätte niemand erahnt, dass Michaela seit mehreren hundert Jahren Teil des Kaders war, viel zu friedlich sah sie aus.

In einem Zustand zwischen Schlaf und Entspannung ruhte ihr Kopf auf seiner Brust. Die hellgrünen Augen hatte sie geschlossen. Eine ihrer Hände lag auf der Stelle über seinem Herz, die andere war in seine weichen, grauen Federn vergraben. Sie hatte ein Bein über die seinen gelegt, während ihre bronzefarbenen Flügel auf seinen ausgebreitet waren.

Keinen einzigen Muskel in ihren Schwingen hatte sie angespannt. Dariels Finger glitten sanft ihre Wirbelsäule entlang über ihre nackte Haut. An der Stelle, wo die Flügel aus dem Rücken wuchsen, zog er mit leichtem Druck kleine Kreise. Ein zufriedenes Seufzen gefolgt von einem Laut, der beinahe an ein Schnurren erinnerte, waren die unmittelbare Reaktion des weiblichen Erzengels.

Auf Dariels Lippen legte sich ein Lächeln. Wieder kneteten seine Fingerknöchel eine leicht verspannte Stelle. Er konnte spüren, wie ihre Flügel noch eine Spur schwerer wurde, während sich Michaela weiter entspannte. „Daran könnte ich mich gewöhnen", seufzte sie genüsslich.

„Vorsicht, Lady Michaela, man könnte meinen, dass Ihr eine Schwäche für Streicheleinheiten habt", scherzte der Fährtensucher. Sie konnte seine Brust unter ihrer Wange vibrieren spüren. Grummelnd öffnete sie die Augen und sah zu ihm auf: „Lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster, Fährtensucher. Es könnte sein, dass du dir sonst die Finger verbrennst."

Ebendiese Finger legten sich besitzergreifend auf ihren unteren Rücken, während er sie verschmitzt angrinste: „Deine Funken verbrennen mich nicht, Mika. Nicht wenn ich dich streichle, nicht wenn ich dich küsse und auch nicht wenn ich dich ..." Ihre Hand legte sich über seinen Mund und hinderte ihn daran, den Satz zu beenden: „Selbstgefälliger Engel."

Seine Mundwinkel zuckten unter ihrer Handfläche, bevor er einen Kuss darauf hauchte. Langsam glitten ihre Finger zurück zu der Stelle über seinem Herzen: „Weshalb hast du aufgehört, mich zu massieren?" Wieder vibrierte seine Brust vor unterdrücktem Lachen. Seine Hand wanderte über ihren Rücken zurück zu der verspannten Stelle. „Immer dieser Befehlston", brummte er, während er die Massage wieder aufnahm.

„Gewöhn dich daran, Fährtensucher. Ich bin immer noch ein Erzengel", murmelte Michaela. Ihre hellgrünen Augen schlossen sich und sie genoss die sanften Streicheleinheiten. „In diesem Bett bist du kein Erzengel, Mika", warf Dariel ein, „ich habe noch nie einen Erzengel gesehen, der seine Flügel nicht unter Kontrolle hatte. Du etwa?"

Ihre Fingernägel kratzten über seine Brust: „Ich habe meine Flügel sehr wohl unter Kontrolle." „Dann heb sie an", die spöttische Herausforderung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Grummelnd spannte Michaela die Muskeln in ihren Flügeln an. Dieser Ablauf kostete sie für gewöhnlich nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde, doch in diesem Moment war ihr Körper zu erschöpft.

Dariel lachte herzhaft: „Sind deine Flügel müde, Mika?" „Mach dich nicht lustig über mich!", zischte Michaela und bohrte ihren Zeigefinger in seine Brust. Zärtlich hauchte ihr der Fährtensucher einen Kuss ins Haar: „Niemals, immerhin bist du ein furchterregender, gefährlicher Erzengel." Sein Tonfall war so ernst, während seine Worte ein Teil ihres Spiels waren, dass sie nicht anders konnte als ebenfalls zu schmunzeln.

Für eine Weile kehrte die Stille zurück. Dariels Finger glitten wieder und wieder über ihren Rücken und die bronzefarbenen Flügel, während Michaela dies mit geschlossenen Augen genoss. Schließlich war es er, der das angenehme Schweigen brach: „Raphael und Elena erwarten uns im Laufe des Vormittags in der Engelsenklave zum Frühstück."

Widerwilliges Brummen war die einzige Antwort des weiblichen Erzengels. „Wir müssen das weitere Vorgehen besprechen", sprach Dariel unbeirrt weiter, „ich habe eine Idee, wie wir an deinen heimlichen Verehrer herankommen. Bei der Umsetzung werden wir Unterstützung brauchen."

Hellgrüne Augen blitzten ihn an: „Ich hatte nicht vor dieses Bett so bald wieder zu verlassen." Es folgte ein frustriertes Seufzen und ein Kuss auf seine nackte Brust. „Du bist viel zu pflichtbewusst, Fährtensucher. Eine wirklich bewundernswerte Eigenschaft, wenn es nicht bedeuten würde, dass du aufhören musst, meine Flügel zu streicheln."











Elenas graue Augen suchten den Himmel nach ihren Gästen ab. „Ich wette, dass es ihre Schuld ist", brummte die Gildenjägerin, als sich der Erzengel von New York neben sie stellte, „bestimmt war der Ausschnitt der ersten fünf Kostüme nicht tief genug oder der Lippenstift hat nicht zu ihren Schuhen gepasst." Ein scharfes Messer glitt durch ihre Finger.

Die Mundwinkel des Erzengels zuckten. Seine Gemahlin schien nie auch nur ein gutes Wort für Michaela übrig zu haben. Dass Elenas Magen vor Hunger bereits hörbar knurrte, besserte ihre Laune und die Ansichten über die Königin von Konstantinopel auch nicht.

Als die Jägerin zu einer weiteren Triade ansetzen wollte, entdeckte sie zwei Flügelpaare, die auf die Engelsenklave zuflogen. Gewitterwolken und Bronze, Raphaels Augen waren scharf genug, um sie bereits aus dieser Entfernung erkennen zu können. Offenbar hatte Dariel sein Versteckspiel aufgegeben, denn der Fährtensucher flog auf gleicher Höhe mit dem weiblichen Erzengel.

„Endlich!", stöhnte Elena und ließ ihr Messer zurück in sein Versteck gleiten, „ich war so kurz davor auf eure verdammte Etikette zu pfeifen und mit dem Frühstück zu beginnen." Raphael schlang die Arme um ihre Taille. Die einzigartigen Flügel seiner Gemahlin drückten sich gegen seine Brust: „Michaela wird es bestimmt zu schätzen wissen, dass du für sie den Hungertod riskiert hast." Nur wer ihn so gut kannte, wie die Jägerin konnte den Sarkasmus aus seiner Stimme heraushören.

Ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen: „Benimm dich, Erzengel. Das königliche Flittchen könnte sonst noch glauben, dass ich mir wirklich etwas aus ihrem Besuch mache und es nicht nur des Friedens wegen über mich ergehen lasse." Hastig stahl sich Elena einen Kuss von ihrem Mann, bevor sie den Blick wieder auf das näher kommende Paar richtete.

Überrascht sog die Gildenjägerin die Luft ein, als sie die beeindruckenden Schwingen der anderen Frau besser erkennen konnte. Der satte Bronzeton glühte in den morgendlichen Sonnenstrahlen. Michaelas Flügel waren wirklich schön, doch irgendetwas hatte sich verändert. Raphael?

Elena? Die Stimme ihres Erzengels klang glasklar in ihrem Kopf. Werde ich langsam verrückt oder sehen Michaelas Flügel anders aus?, erkundigte sich die Jägerin ohne den weiblichen Engel aus den Augen zu lassen, können Engelsflügel so einfach die Farbe ändern?

Der Herrscher über New York hatte längst erkannt, wovon seine Gemahlin sprach. Elena hatte recht. Die Flügel von Michaela hatten sich verändert und Raphael kannte auch den Grund dafür. Erinnerst du dich daran, was passiert, wenn du mich um den Verstand bringst, Elena? Seine geistige Stimme klang mehr als ein wenig belustigt.

Verwirrt sah die Jägerin zu ihm auf. Wovon sprach der Erzengel? Erst als Raphael sich einen leidenschaftlichen Kuss von ihr stahl ergab seine Frage Sinn. Engelsstaub! Mit der gleichen Intensität erwiderte Elena den Kuss. Moment!, sie löste sich ein Stück von ihm, willst du mir etwa weismachen, dass Miss Perfekt sich hat bestäuben lassen?

Raphaels Blick sprach Bände. Sofort zuckten Elenas Augen zurück zu dem weiblichen Erzengel und versuchten die Farbe des Engelsstaubs zu identifizieren. Blau, es ist definitiv blau. Welcher Engel hat ... Der Gedanke riss mitten im Satz ab. Für eine Sekunde herrscht Stille. Die Überforderung der Gildenjägerin war beinahe mit Händen greifbar. Die Hexe hat sich mein Gewitterwölkchen gekrallt. In ihrem Kopf lachte Raphael schallend. Sein Geruch nach frischer Meeresluft legte sich um all ihre Sinne. Zärtlich rieben seine weißgoldenen Federn an den ihren.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now