Kapitel 20

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Kaum hatte sich Dariels Stimme aus ihren Gedanken entfernt, entdeckten die scharfen, hellgrünen Augen des weiblichen Erzengels einen näher kommenden Punkt am Himmel. Noch konnte sie den Engel nicht erkennen, doch dass es einer war, stand außer Frage. Michaelas Macht flammte auf, während sie leise in das unter ihren Haaren versteckte Mikrofon murmelte: „Wir müssen absolut sicher sein, bevor wir eingreifen. Einen unschuldigen Engel ohne Grund hinzurichten, würde den Rest des Kaders auf unsere Situation aufmerksam machen." In ihrem Ohr gaben die anderen Beteiligten leise ihre Zustimmung.

Es fühlte sich merkwürdig an, auf solch primitive Kommunikationsmittel angewiesen zu sein. Als Erzengel konnte Michaela mit Leichtigkeit in den Köpfen von Sterblichen sowie Unsterblichen ein und ausgehen. Lediglich Raphaels Schilde konnten ihrer Kraft widerstehen und ihr den Zutritt verwehren. Doch als Dariel ihr das Mikrofon und den beinahe unsichtbaren Kopfhörer angelegt hatte, hatte sie es einfach zugelassen.

„Er gehört deinem Hof an, Michaela. Keiner meiner Engel, außer dem Glockenblümchen und Dariel, hält sich derzeit in diesem Gebiet auf", Raphaels Stimme war schneidend. Zähneknirschend spannte der weibliche Erzengel die Flügelmuskulatur an. Die Aufgabe, über den heimlichen Verehrer zu richten, würde also ihr zufallen. „Kannst du ihn erkennen?", erkundigte sie sich, während sie sich innerlich für die bevorstehende Auseinandersetzung wappnete. „Nein. Illium konnte ihn auch nicht identifizieren."

Der Blick ihrer hellgrünen Augen war auf den näherkommenden Engel gerichtet. Michaela konnte bereits die Flügelspannweite erahnen, nicht aber die Farbe ebendieser oder ob er wieder eines seiner grausamen Geschenke dabei hatte. „Er muss wissen, dass ich ihn sehen kann", stellte sie flüsternd fest. Immer näher kam er ihr, bis sie es erkannte.

Das Herz des weiblichen Erzengels setzte für einen Schlag aus, bevor es stotternd seine Arbeit fortsetzte. Eine absolute Starre erfasste ihren Körper. Jeder Muskel verkrampfte sich, während Michaela das Gefühl hatte, ihre Lunge wäre nicht länger in der Lage, sich mit Luft zu füllen. Der Schauer, der ihr den Rücken entlang lief, hatte nichts mit angenehmen Empfindungen zu tun. Es waren pure Abscheu und Angst, die von einem der mächtigsten Wesen dieser Welt Besitz ergriffen.

Unmöglich! Es war unmöglich! Verzweifelt klammerte sich Michaelas Verstand an diese Tatsache, während der Blick ihre hellgrünen Augen auf den näher kommenden Schwingen lag. Grau, sie waren dunkelgrau mit bernsteinfarbenen Flecken. Das Muster glich dem eines Schwammspinners. Flügel, die ihr fast so vertraut waren, wie ihre eigenen. Flügel, die sie jahrzehntelang beinahe täglich berührt hatte. Flügel, die es auf dieser Welt nicht mehr geben dürfte.

Immer näher kam der Engel. Das beklemmende Gefühl wurde beinahe übermächtig, als Michaela die strahlend grünen Augen in seinem Gesicht erkennen konnte. Grün, wie das Gift in seinem Körper. Grün, wie der Ring, der sich um ihre eigene Iris gelegt hatte, nachdem er versuchte sie zu töten. Ihre Flügel zitterten bei der Erinnerung an diesen Tag. Hätte Raphael sie nicht gerettet, wäre sie damals gestorben und hätte Dariel nie kennengelernt.

Ein selbstzufriedenes Lächeln lag auf den Lippen des Engels. Nicht viele Männer hatten es je geschafft den weiblichen Erzengel sprachlos zumachen und noch weniger hatten ihr jemals Angst eingeflößt. Er tat beides. Mit einem Schlag war ihre Macht in sich zusammengefallen. Das brennende Engelsfeuer hatte sich tief in ihr Inneres zurückgezogen. Es gab nichts, was sie ihm entgegensetzen konnte.

Michaela, er ist es nicht!, Raphaels Geruch nach dem weiten Ozean drängte sich zusammen mit seiner kristallklaren Stimme in ihren Kopf, er ist tot! Seine Worte rissen mit aller Kraft an den unsichtbaren Fesseln, die den weiblichen Erzengel gefangen hielten. Wenn sie sich nicht sofort aus ihrer Starre löste, würde der Engel sie einfach umreißen.

Zu der gleichen Erkenntnis kam auch Elena. Die Ähnlichkeit der beiden Engel war nicht zu verleugnen, doch anders als Michaela war die Jägerin nicht in der Vergangenheit gefangen. Als Raphaels dröhnende Gedankenstimme die andere Frau nicht aus ihrer Starre reißen konnte, betätigte die Gildenjägerin ohne zu zögern den Abzug ihrer Armbrust.

Der Pfeil schoss aus dem Versteck direkt auf den Engel zu. Als dieser die Gefahr erkannte ließ er sich einige Meter fallen, entging einer Verletzung und verfehlte dadurch sein Ziel. In rasender Geschwindigkeit flog er an der Hohepriesterin von Byzanz vorüber. Seine Flügelspitze berührte ihre bronzefarbenen Federn.

Fluchend stieg er in den Himmel auf. So hatte sein Plan nicht ausgesehen. Er hatte Michaela überraschen und sich durch sein Aussehen einen Vorteil verschaffen wollen. Es war abzusehen gewesen, dass sie ihn mit dem toten Erzengel verwechselte, der über Jahrzehnte das Bett mit ihr geteilt hatte. Dadurch hatte er sie derart aus dem Konzept gebracht, dass es ein Leichtes gewesen wäre sie mitzunehmen, wenn nicht dieser Pfeil aus dem Nichts gekommen wäre.

Die flüchtige Berührung an ihrem Flügel hatte Michaela aus ihrer Starre gerissen. Er war es nicht! Die Schwingen waren heller, die Flecken nicht Bernstein, sondern fahles Braun. Das Grün dieser Augen war dunkler und enthielt kein Gift. „Sein Name ist Azriel", zischte der weibliche Erzengel, während sie sich mit einem Senkrechtstart in die Luft katapultierte, „er gehört seit über tausendfünfhundert Jahren zu meinem Hof."

Engelsfeuer brannte in ihren Adern und löschte den letzten Rest der Angst aus, als sie ihm entgegen schoss. Die Schilde des Engels gaben augenblicklich nach, denn im Gegensatz zu Dariel oder auch Illium war er nicht mächtig. Was hast du hier verloren, Azriel?, die Kraft eines Erzengels schwang in Michaelas Stimme mit, während sie sich ohne um Erlaubnis zu fragen Zutritt zu seinem Kopf und seinen Gedanken verschaffte.

My Lady, ich bin hier, um ... Schwach, seine Stimme klang unklar und piepsend. Das selbstzufriedene Lächeln war aus seinem durchschnittlichen Gesicht verschwunden. Es gab keine Ähnlichkeiten zwischen diesem Engel und Uram.

Wo vorher Angst gewesen war, erfüllte nun Zorn den weiblichen Erzengel. Ihre Flügel glichen bronzefarbenem Feuer. Auch Azriel hatte die Veränderung entdeckt, denn in den dunkelgrünen Augen tauchte ein Hauch von Panik auf. Selbst wenn er nicht der heimliche Verehrer war, hatte er mit seinem direkten Anflug auf sie eine Grenze überschritten und würde dafür bezahlen.

Bronzene Blitze bohrten sich in seinen Schädel. Beinahe hätten seine Flügel nachgegeben und er wäre gestürzt. „My Lady, habt Gnade", keuchte er, während Michaelas Kraft sich in seinem Kopf ausbreitete. Der weibliche Erzengel riss die Gedanken ihres Gegenübers auf. Es stand außer Frage, dass sie damit eine Grenze überschritt. Wer sollte sie dafür zur Rechenschaft ziehen? Sie war ein Mitglied des Kaders und er gehörte zu ihrem Hof. Er gehörte ihr. Sie konnte mit ihm tun und lassen, was sie wollte.

Eisige Kälte ging von der in ihr wohnenden Kraft aus. Michaela konnte spüren, wie sie durch ihren Körper floss. Immer näher zu ihrem Herzen. Sie war ein Erzengel. Gefährlich und so gut wie unsterblich. Bronzefarbenes Engelsfeuer schlang sich um ihre Hand, während ihre hellgrünen Augen einen giftigen Schimmer annahmen.

Die Schilde, die einmal Azriels Gedanken geschützt hatten, waren zersplittert. Scharfe Kanten, an denen er sich schneiden würde, wenn er versuchte, ihr den Zutritt zu verwehren. Daran verschwendete der Engel jedoch nicht einen Funken seiner verbleibenden Stärke. Im Gegenteil er hieß sie in seinem Kopf willkommen und öffnete alle Schranken.

Bilder schwappten in einer Welle auf Michaela über. Junge Frauen und Männer, Sterbliche, die ihr Leben noch vor sich hatten. Wie ein Schatten stürzte sich Azriel auf sie und bohrte seine Zähne in ihren Hals. Die Schreie ließen dem weiblichen Erzengel das Blut in den Adern gefrieren. Sie hatten nie eine Chance gehabt. Der Engel hatte gewollt, dass sie litten und er hatte gewollt, dass der weibliche Erzengel ihn dafür bewunderte.

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