Kapitel 6

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Völlig überrumpelt sah der Fährtensucher zu ihr hinab. Ohne ihre hohen Absätze war sie doch einige Zentimeter kleiner als er. Bevor Dariel sich so weit gefangen hatte, dass er ihr hätte antworten können, hatte sich Michaela bereits mit zwei kräftigen Schlägen ihrer immer noch feuchten Flügel in die Luft erhoben. Der dabei aufkommende Wind brachte seine Haare vollkommen durcheinander.

Hastig und weitaus weniger elegant als gewöhnlich folgte Dariel dem weiblichen Erzengel. Suchend sah er sich nach ihr um, nachdem er die Häuserdächer unter sich zurückgelassen hatte. Der Himmel war vollkommen leer. Das war unmöglich. Michaela konnte sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Natürlich wusste der Fährtensucher, dass einige der Kadermitglieder durchaus dazu in der Lage waren sich unsichtbar zu machen, doch bei seinen Nachforschungen hatte er keinen Hinweis darauf gefunden, dass sie es auch konnte.

Hast du etwas verloren, Fährtensucher? Der intensive Geruch nach Rosen und Honig schob sich vor seine Sinne. Es überraschte ihn herzlich wenig, dass sie so einfach in seinen Kopf eindringen konnte, denn schließlich war ihm das Gleiche bei ihr gelungen.

Dariels türkisblaue Augen suchten den nächtlichen Himmel über der Stadt ab. Wo versteckte sie sich? Als seine Suche erneut leer ausging, entschied der Engel sich einen Teil seiner eigenen Fähigkeiten zu nutzen. Statt weiter mit den Augen zu suchen, ließ er eine kaum spürbare Welle an Energie frei. Elena hatte diese Gabe einmal als Fledermaussinn bezeichnet.

Es dauerte nicht lange, bis die freigesetzte Welle verstärkt durch Michaelas Kraft zu ihm zurückkehrte. Gefunden! Sie hatte sich hinter einem Hochhaus versteckt und war nun auf dem Weg zu ihm. Ohne zu zögern, klappte Dariel seine Flügel zusammen und rollte sich zur Seite, als sie in vollem Tempo an ihm vorüber raste.

Michaela hörte ihn Lachen. Wieder jagte er damit einen angenehmen Schauer über ihren Rücken. In ihrem Kopf grollte der Donner eines Gewittersturms. Wollt Ihr spielen, Lady Michaela? Ein Schatten huschte unter ihr hinweg, doch Dariel war so schnell, dass sie kaum bemerkte, wie er sich in einer Spirale über sie hinweg drehte.

Wollte sie spielen? Spielen war ein merkwürdiger, sterblicher Ausdruck für einen Engel. Die Königin von Konstantinopel spielte niemals. Sie war ein Erzengel, reine Perfektion ohne menschliche Regungen. Dennoch hatte sie zugelassen, dass ein einfacher Engel ihre Flügel streichelte und in ihr das Verlangen auslöste über den Himmel zu jagen. Ein Bedürfnis, das sie schon seit Langem nicht mehr gehabt hatte. Diese Gefühle verwirrten sie.

Statt ihm zu antworten steuerte Michaela den Turm an. Sie bremste kaum ab, bevor sie leichtfüßig auf ihrem Balkon landete. Dariel wollte es ihr gleichtun, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihre Flügel nicht zusammenklappen würde. Er stolperte in einen hinein. Seine Hände vergruben sich in den weichen Federn und strichen unbeabsichtigt über den besonders empfindlichen Flügelbogen.

Wie ein Stromschlag schoss ihre Macht durch seinen Körper, doch es tat nicht weh. Durch das Tempo seiner Ankunft hatte er auch Michaela ins Schwanken gebracht. Beinahe hätte er einen Erzengel zu Boden gerissen. Illium hätte sich darüber bestimmt köstlich amüsiert. Dariel hingegen war ein derartiger Fehler nur ausgesprochen unangenehm. „Entschuldigung", murmelte er verlegen, während er seine Finger aus ihren Federn befreite.

Fast schon rechnete er damit, dass Michaela ihm den Kopf abreißen würde, doch sie tat es nicht. Im Gegenteil der weibliche Erzengel schwieg, lediglich ihre Schultern zuckten. Es sah fast so aus als ... „Lacht Ihr etwa über mich?", erkundigte sich Dariel fassungslos. Die Kapuze war ihr beim Zusammenstoß vom Kopf gerutscht und so konnte er das belustigte Funkeln in ihren Augen sehen, als sie sich ihm leicht zuwandte.

Die zusammengekniffenen türkisblauen Augen, das zerzauste braune Haar und die vor Scham leicht geröteten Wangen ließen ihre Selbstbeherrschung in sich zusammenfallen. Zum ersten Mal seit Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten oder Jahrhunderten lachte Michaela. Nichts daran war künstlich und aufgesetzt. Es kam von Herzen und es fühlte sich unheimlich befreiend an.

Ihr Lachen löste in Dariel den Wunsch aus, mehr davon zu hören. Fasziniert sah er dabei zu, wie sie die Flügel einzog und sich blitzschnell umdrehte. Die hellgrünen Augen sprühten vor Freude Funken. Etwas Schöneres als den Erzengel von Zentraleuropa in diesem Moment hatte er noch nie zuvor gesehen. Ihre Hände legten sich auf seine Brust.

Immer noch kichernd trat Michaela näher und strich mit den Fingern über sein T-Shirt. „Dir ist bewusst, dass ein solcher Zusammenstoß unverzeihlich ist?", erkundigte sie sich. Dariels Wangen färbten sich in einem noch dunkleren Rot: „Ich bitte noch einmal höflichst um Entschuldigung." Wieder lachte sie: „Weißt du, wie kleinen Engeln das richtige Landen beigebracht wird?" Fasziniert beobachtete er, wie jung sie in diesem Moment aussah und schüttelte dabei als Antwort auf ihre Frage den Kopf.

Ihre Hände hatten seine breiten Schultern erreicht. Sie konnte die angespannten Muskeln unter dem T-Shirt spüren. „Wenn kleine Engel holprig landen, dann müssen sie diese Übung wiederholen", sie lächelte ihn ehrlich an, bevor sie ihm einen Stoß verpasste, der ihn rückwärts über die Kante des Balkons stolpern ließ.

Reflexartig riss Dariel die Flügel auf, machte eine Drehung, die seinen Sturz abfing und stieg wieder in die Höhe. Wie ein Blitz schoss er auf den Balkon zu. Michaelas Lachen hallte durch seinen Kopf und streichelte über seine Haut. Es war wie eine physische Liebkosung und brachte ihn völlig durcheinander. Viel zu schnell landete er vor ihr und zwang sie einige Schritte zurückzuweichen.

Die Außenmauer des Turms im Rücken und einen hinreißenden Engel vor sich, lachte Michaela weiter. „Diese Landung war noch jämmerlicher, als die zuvor", stellte sie fest, „was bringt Raphaels Waffenmeister euch im Training bloß bei?" Wie von selbst legten sich ihre Hände erneut auf seine Brust.

„Galen war ein ausgezeichneter Lehrmeister", verteidigte Dariel seinen Freund. Diesmal war der schwere Geruch nach Rosen und bestem Honig nicht in seinem Kopf, er ging von ihr aus. „Die Hühner auf den Bauernhöfen um Konstantinopel konnten zielsicherer landen als du", scherzte Michaela, während sie mit den Fingern einer Hand sein Unterkiefer entlangfuhr.

„Ich wette, dass diese Hühner in Eurer Gegenwart auch Probleme hatten, sich zu konzentrieren", brummte der Fährtensucher und gab damit zum ersten Mal offen preis, dass sie ihn beeinflussen konnte. Michaelas Lachen endete abrupt und ihr Blick wurde ernst: „Du schiebst die Schuld mir zu? Vergisst du, dass ich ein Erzengel bin?"

Ein Grinsen schlich sich auf Dariels Lippen: „Es ist nicht der Erzengel, der mich ablenkt." Zärtlich und ohne zu zögern, fuhr er den Bogen ihres linken Flügels nach und stellte zufrieden fest, dass dieser bei seiner Berührung leicht zitterte. Verschwörerisch beugte er sich näher zu ihr hinab. Dieser Geruch würde ihn bestimmt jede Nacht und jeden Tag seines restlichen Lebens verfolgen. Direkt an ihrem Ohr flüsterte er: „Es ist die Frau, die sich hinter dem Erzengel versteckt. Mit ihr will ich spielen, Mika."

Von einer Sekunde zur nächsten war er verschwunden. Wo gerade noch seine Flügel gewesen waren, sah sie nun den Himmel über New York. Seine Körperwärme wurde ersetzt durch den frischen Wind. Frustriert stöhnte Michaela auf. Energieblitze zuckten um ihre Flügelspitzen. Noch nie hatte sie ein Mann derart aus der Fassung gebracht. Mit ihr will ich spielen, Mika. Ein Versprechen, doch selbst die Gewitterwolken in ihrem Kopf hatten sich für den Moment verzogen.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now