Kapitel 7

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Die Sonne erhob sich über New York City, als Dariel die Gemahlin seines Sires beim Training beaufsichtigte. Elena hatte ihn darum gebeten, denn die zum Engel gewordene Gildenjägerin nahm sich aus den Bewegungsabläufen möglichst vieler Engelskrieger die für sie passenden Elemente und fügte sie zu einem neuen auf sie zugeschnittenen Kampf- und Flugstil zusammen. Seit er das letzte Mal mit ihr trainiert hatte, war sie schneller und stärker geworden.

Vor Anstrengung zitterten Elenas Mitternachtsflügel, als sie die Übung, welche er ihr zuvor gezeigt hatte, ein weiteres Mal wiederholte. Ihre Schwingen hatten eine wirklich einzigartige Farbgebung. Sie waren genauso speziell, wie die Frau, die sie trug.

Ein Bild von Bronze, das in den wärmenden Sonnenstrahlen glitzerte, drängte sich in Dariels Kopf. Diese Flügel waren ebenso einzigartig. Wunderschön und stark, wie Michaela es auch war. Besonders faszinierend fand der Fährtensucher die Funken ihrer Macht, die manchmal über das Gefieder zischten ohne, dass sie es zu bemerken schien. Gefährlich und doch so verführerisch weich.

„Genug", entschied Dariel, als Elena die Übung erneut beginnen wollte, „du zerrst dir die Muskeln, wenn du so weitermachst. Lass die Flügel sinken und entspann deine Schultern. Du musst dich kurz ausruhen, bevor wir an wieder deinen Starts arbeiten."

Folgsam und mit einem tiefen Seufzen ließ die Gildenjägerin die Flügel hängen so, dass die Spitzen über das Dach des Turms strichen. Jedem anderen Engel wäre ein solches Zeichen der Schwäche unangenehm gewesen. Es sprach von großem Vertrauen zwischen ihnen, dass Elena sich vor dem Fährtensucher derart verletzlich zeigte. Mit einer Hand massierte sie sich den verspannten Nacken: „Ich habe noch immer nicht herausgefunden, wann mein Limit erreicht ist und wann ich noch ein Stück weiter gehen kann."

Der Fährtensucher reichte der Gemahlin des Sires eine Wasserflasche und mehrere Energieriegel. „Junge Engel lernen das in ihrer Ausbildung. Dein Gespür ist besser geworden, aber du willst zu schnell zu viel", Dariels Stimme klang nicht abwertend, sondern aufmerksam. Das mochte Elena an ihm. Er würde sie niemals mit Samthandschuhen anfassen oder ihr die Wahrheit verschweigen.

Nachdem sie alles, was er ihr gereicht hatte, verschlungen hatte und ihre Energiereserven aufgefüllt waren, trat die Gildenjägerin an den Rand des Daches. Der Turm war mehr als hoch genug, um zu garantieren, dass sie rechtzeitig wieder an Höhe gewinnen konnte. „Zeigst du es mir noch einmal?", bat sie den Engel neben sich.

Ein stummes Nicken und Dariel ließ sich fallen. Blitzschnell öffnete er die Flügel, drehte sich in der Luft und schoss zurück auf das Dach, wo er elegant landete. Der Sturz war kaum tiefer als einen Meter gewesen. Die Hühner auf den Bauernhöfen um Konstantinopel konnten zielsicherer landen als du. Michaelas lachende Stimme vom Vorabend drängte sich in seine Gedanken. Genervt schüttelte er den Kopf und konzentrierte sich wieder auf Elena.

Raphaels Gemahlin applaudierte leise. Ihre grauen Augen blitzten vor Begeisterung auf: „Das war unglaublich! Du bist genauso schnell wie das Glockenblümchen!" Wieder zitterten ihre Flügel, doch diesmal war es die Aufregung. „Timing und Übung sind die Schlüssel zum Erfolg", warf Dariel ein, „versuch es."

Das ließ sich die Gildenjägerin nicht zweimal sagen. Eifrig stürzte sie sich vom Dach und fiel. Erst vier Stockwerke später gelang ihr die Drehung und sie kehrte zu Dariel zurück. Obwohl Elenas Flug weit weniger elegant gewesen war, als der seine, strahlte sie über das ganze Gesicht. Ohne zu zögern, trat sie wieder an die Dachkante und ließ sich erneut fallen.

Elena war einmalig. Die grauen Augen sahen mehr, als sie zugaben. Das lange weißblonde Haar flatterte im Wind. Ihr Lachen und Jubeln drang durch die Luft zu ihm hinauf. Sie war die reinste Lebensfreude. Bestimmt würde die Gildenjägerin seinen Sire für den Rest seiner Tage ein klein wenig sterblich machen. Raphael war ein glücklicher Mann, denn seine Gemahlin war eine wunderschöne und starke Frau mit einem reinen Herzen.

Helles Grün, das beim Lachen funkelte. Lange Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die sie unglaublich jung aussehen ließen. Federn aus Bronze, die er unter allen Umständen hatte berühren müssen. Erneut schob sich ein Bild des weiblichen Erzengels in seinen Kopf. Elena war schön, doch die Michaela, die in der vergangenen Nacht zum Vorschein gekommen war, hatte ihn verzaubert.

Ein fester Stoß gegen seine Brust ließ Dariel einige Schritte zurücktaumeln. Er blinzelte und sah Mitternachtsschwingen vor sich. „Wo bist du mit deinen Gedanken, Gewitterwölkchen?", die Gildenjägerin klang mehr belustigt, als verärgert, „du hast mir gar nicht mehr richtig zugesehen." Raschelnd sortierte er seine Flügel neu und zog einen weiteren Energieriegel aus der Tasche: „Verzeih mir. Ich war in Gedanken."

Mit dem Riegel in der Hand ließ sich Elena im Schneidersitz am Dach des Turms nieder. Ihre langen Beine baumelten über die Kante. „Woran denkst du?", erkundigte sie sich und nahm den ersten Bissen. Ohne zu zögern, nahm Dariel neben ihr Platz. Während ihre Flügel hinter ihr ausgebreitet auf dem Dach ruhten, hatte er einen angezogen und ließ den anderen ausgestreckt über den Rand des Turmes hängen.

Als er ihr nicht antwortete, wurde die Jägerin noch neugieriger: „Denkst du über deinen Fall nach? Gibt es eine neue Spur?" Dariel neigte den Kopf und murmelte: „Nicht direkt." Elena stieß ihn mit dem Ellenbogen an. Das Grinsen auf ihren Lippen ließ die grauen Augen strahlen: „Nicht direkt? Du wirst doch nicht etwa über die Königin der Zicken nachdenken?"

Sie ließ die Luft zwischen den Zähnen entweichen, als sich die Wangen des Fährtensuchers plötzlich rot färbten. „Macht sie dir das Leben zur Hölle? Sie hält sich doch an die Vereinbarungen, die sie mit Raphael getroffen hat, oder?", hakte Elena nach, die Augenbrauen zusammengezogen. „Michaela hält sich an die Regeln des Sires", geflissentlich ließ er die bisherigen Verstöße aus, „sie kooperiert nicht nur mit mir, weil sie es muss. Im Gegenteil sie ist sehr zuvorkommend und offen für meine Ideen."

„Zuvorkommend? Offen für deine Ideen? Sind wir sicher, dass wir über dieselbe Person sprechen? Michaela? Das größte Flittchen von Zentraleuropa?", Elenas Stimme machte ihre Antipathie für die andere Frau deutlich, doch als Dariel sie skeptisch ansah, seufzte sie, „entschuldige, ich meinte natürlich nicht Flittchen, sondern Erzengel."

Dariel ließ den Blick seiner türkisblauen Augen über den Himmel schweifen, so blieb ihm die Musterung durch die Gildenjägerin verborgen. Sie hatte den Engel noch nie so nachdenklich gesehen. Normalerweise lachte der Fährtensucher beinahe so viel wie Illium. „Gewitterwölkchen, willst du mir nicht sagen, was wirklich los ist? Was hat sie getan?", brach Elena das Schweigen zwischen ihnen.

„Woher wusstest du es? Woher wusstest du, dass der Sire menschlich genug war, um dich zu lieben?" Mit dieser Frage als Antwort hatte die Jägerin nicht gerechnet: „Raphael ist mit mir gefallen." „Denkst du, dass Michaela auch eine menschliche Seite ..." „Stopp!", unterbrach Elena den anderen Engel, „tu das nicht, Dariel! Michaela ist ein Erzengel und sie ist nur sich selbst loyal."

Türkisblau traf auf Grau. „Ich denke, dass sie mehr ist als das schöne Gesicht, das sie allen zeigt", warf der Fährtensucher ein. Schnaubend schüttelte Elena den Kopf: „Ich bezweifle gerade stark, dass du dabei mit deinem Kopf denkst." Viele andere Engel hätten eine solche Aussage als Beleidigung aufgefasst, Dariel hingegen nahm sie mit einem Schmunzeln zur Kenntnis. Die Gildenjägerin war genauso ehrlich mit ihm, wie er mit ihr.

„Michaela ist gefährlich und versteckt das hinter Sex und ihrem Äußeren. Du solltest wirklich die Finger von ihr lassen", sprach die Jägerin weiter, „und auch alle anderen Körperteile. Falls Engel Geschlechtskrankheiten bekommen können, hat sie bestimmt welche." Der ernste Ausdruck auf ihrem Gesicht drang durch Dariels Mauern. Schallend brach er in Gelächter aus, bevor er sich vom Dach fallen ließ, um den weiblichen Erzengel von ihrem Balkon abzuholen.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now