Kapitel 10

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Sophia hatte es also auch gesehen. Ich wusste, was geschehen war, aber so wirklich realisieren konnte ich es nicht. Ich konnte mir die Welt ohne Vanessa nicht vorstellen. Nicht mehr. Seitdem sie in mein Leben getreten war, hatte sich vieles verändert. Ich hatte mich verändert und war ein anderer Mensch geworden. Wie ging man mit so einer Situation um? Wie schafften Menschen das? Ja, es musste weitergehen, aber ging das überhaupt, wenn man etwas von sich selbst verloren hatte? Ich musste an Rupi Kaurs Buch denken, was Vanessa sich ausgeliehen hatte. Ich wusste, dass sie mir den Knick bei der Rückgabe absichtlich in das Buch gemacht hatte, nur ihre Intention dahinter hatte ich nie ganz verstanden. »Wie ein Regenbogen nach dem Regen wird sich nach der Trauer wieder Freude offenbaren« - konnte das stimmen? In diesem Moment hatte ich das Gefühl, nie wieder froh zu werden. War es nicht merkwürdig, wie sehr man Menschen ins Leben ließ und ins Herz schloss? Es bestand immer ein gewisses Risiko, dass man verletzt wurde. Aus welchen Gründen auch immer. Trotzdem ließ man es immer wieder zu. So war es eigentlich auch richtig. Man durfte nicht bei jedem guten Menschen davon ausgehen, dass er irgendwann ging.

Eine Sache ging mir durch den Kopf. Ganz egal, wie viel Zeit verging, es würden keine gemeinsamen Erinnerungen folgen. Alles, was ich je mit Vanessa erleben konnte, war bereits passiert. Der Gedanke war absurd. Irgendwie. Ich wollte mein gesamtes Leben mit ihr teilen, aber wir hatten nur wenige Monate zusammen gehabt und das nicht einmal richtig oder offiziell. Ich kratzte eine Stelle an meinem Bauch, was wieder Übelkeit hervorrief. Ich musste daran denken, wie sie diese Stellen mit Küssen bedeckt hatte. Wie sie mich berührt hatte. Wie ihre Augen vor Lust dunkler wurden. Wie sie mich immer angelächelt und ich gedacht hatte, dass nichts auf dieser Welt schöner aussah. Wie wir im Unterricht versucht hatten, uns normal zu behandeln, obwohl wir uns viel näher standen als erlaubt. Wie ich einmal auf der Treppe stolperte und sie mich auffing. All das waren gute Erinnerungen, aber die Trauer überschattete alles. Es wurde mir unmöglich gemacht, glücklich zu sein, denn jede Erinnerung fühlte sich an wie ein Tritt ins Herz. Ich hatte schreckliche Angst davor, dass nichts Gutes von uns übrig blieb.

Ich hatte alles von Vanessa gelöscht, weil ich sie echt vergessen und mich voll und ganz auf Melina einlassen wollte. Nur ein einziges Bild hatte ich behalten. Es war das Selfie von ihr, was sie mir damals aus dem Bett geschickt hatte. Ich suchte es in meiner Galerie und als ich ihr Gesicht erblickte, überkam mich wieder diese tiefe Trauer. Sie war zu schön gewesen. Innerlich und äußerlich. Ich hatte alles an ihr geliebt. Das konnte doch alles nicht wahr sein. »Vanessa«, flüsterte ich und meine Stimme bebte. Zärtlich strich ich über ihr Gesicht auf meinem Display. Ich wollte sie nicht verlieren, obwohl ich sie längst verloren hatte. Diese Erkenntnis sorgte für Einsturzgefahr in meinem Inneren. Wie sollte ich das nur akzeptieren? Wie sollte ich nur damit klarkommen? Meine Gedanken wiederholten sich in rasender Geschwindigkeit. Ich konnte nicht in Worte fassen, was ich fühlte. Ein Miauen riss mich aus meinen Gedanken. Emma hatte sich zu mir ins Bett geschlichen und stupste ihren kleinen Kopf gegen mein Gesicht. Ich zog sie näher zu mir und atmete tief durch, als ich ihr Fell roch. Das brachte mich in der Regel immer etwas runter, aber heute brachte es überhaupt nichts.

Erst hatte ich das Klopfen an der Tür nicht wahrgenommen, aber dann steckte Sophia plötzlich ihren Kopf in den Raum. Verdattert setzte ich mich auf. »Was machst du denn hier?«, fragte ich irritiert. »Deine Mama hat mich reingelassen. Ich hoffe, es ist okay. Ich wollte nach dir sehen, Lisa.« Sie kam näher und je näher sie kam, desto näher war ich auch wieder den Tränen. Ihr Blick war besorgt und ihre Augen waren gerötet. Hatte sie geweint? Ich wusste, dass Vanessa ihr in der Vergangenheit auch einmal viel bedeutet hatte. »Darf ich?«, fragte sie vorsichtig und zeigte auf das Bett. Ich nickte nur und rückte ein Stück zur Seite. Ich war für dieses Gespräch nicht bereit. Ich war für gar nichts bereit. Die Wunden waren frisch und ich konnte nicht realisieren, dass... Ich wollte gar nicht daran denken. Meine beste Freundin räusperte sich und starrte gedankenverloren an die Wand gegenüber. Ich spürte, dass etwas sie beschäftigte, dafür kannte ich sie zu gut.

Speechless || gxgWhere stories live. Discover now