Kapitel 12

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Völlig entgeistert starrte ich die Frau an, von der ich bis vor wenigen Sekunden noch gedacht hatte, sie hätte mich und diese Welt für immer verlassen. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ich brachte keinen Ton hervor. Ich sollte reinkommen? Zu ihr? Sie musste mir einige Dinge erklären? Ich verstand die Welt nicht mehr. Abwartend schaute sie mich an, aber ich rührte mich nicht von der Stelle. Ich war geschockt und konnte gar nicht in Worte fassen, was ich in diesem Moment fühlte. Dann traf die Gewissheit mich mit voller Wucht: Vanessa lebte! Ich spürte, wie meine Wangen nass wurden und ich anfing zu schluchzen. Mein Herz tat weh und ich zitterte am ganzen Körper. Das konnte nicht real sein. Ich musste doch träumen. Noch immer konnte ich sie nur anstarren. »Lisa?«, hakte sie vorsichtig nach und ich beobachtete, wie ihre Wangen sich verfärbten. Nervös spielte sie an ihrer Halskette herum, was mich noch mehr aus der Fassung brachte. Ich hatte das so sehr vermisst. Allein ihr Anblick sorgte für ein großes Durcheinander in mir, dabei war es genau das, was ich mir ständig gewünscht hatte. Dass sie jetzt aber wirklich vor mir stand, machte mir... Angst? Ja. Irgendwie schon.

»Ich... Was soll das hier, Vanessa?«, wollte ich wissen und konzentrierte mich auf eine ruhige Atmung. Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen und hätte jede Körperstelle mit sanften Küssen bedeckt, aber natürlich hielt ich mich zurück. Ich war dazu gar nicht in der Lage. Ich war... Sprachlos. Plötzlich spielte sich das Lied »Speechless« in meinem Kopf ab und ein dicker Kloß steckte in meinem Hals fest. »Ich erkläre es dir in der Wohnung, ja?« Sie spürte meine Unsicherheit und Anspannung, aber war das ein Wunder? Monatelang mied sie meine Nähe, ignorierte mich und stieß mich von sich weg. Und jetzt? Jetzt sollte ich in die Wohnung kommen? Einfach so? Damit sie mir etwas erklären konnte? »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, stammelte ich, dabei war es natürlich genau das, was ich am meisten wollte. Ich wollte zu ihr gehen und mit ihr reden. Ich wollte sie in meine Arme schließen und sie nie wieder loslassen. Mich hielt die Angst vor erneuter Ablehnung und Enttäuschung zurück. »Bitte«, flehte sie mich an. »Ein Gespräch.«

Ich atmete noch einmal tief durch und nickte dann. Tief in meinem Inneren hatte ich gewusst, dass ich mich so entscheiden würde. Ich hoffte auf ein klärendes Gespräch. Ich hoffte auf Antworten. Doch ich war mir gar nicht so sicher, ob ich sie hören wollte. Sie machte etwas Platz, aber da der Flur nicht gerade breit war, schob ich mich an ihr vorbei und roch ihr Parfüm. Mir wurde ganz schwindelig und ich hatte Schwierigkeiten dabei, stehen zu bleiben. »Lass uns in die Küche gehen«, meinte sie leise und ich hörte aus dem Wohnzimmer ein Kinderlachen. Finn? Ja, so hörte er sich an. Fast stolperte ich über Schuhe, die im Weg standen, aber ich hielt mich tapfer auf den Beinen. »Möchtest du etwas trinken?«, wollte sie wissen, als sie die Küchentür schloss. Anschließend drehte sie sich in meine Richtung, um mich anzusehen. Ich richtete meinen Blick auf die Wand hinter ihr, nachdem ich mich gesetzt hatte. Wenn ich sie länger ansah, konnte ich für nichts garantieren. Ich sehnte mich so sehr nach ihrer Körpernähe. Nach ihren Lippen. »Nein, danke«, erwiderte ich leise, obwohl ich wohl gern einen Schnaps gehabt hätte. Sie ging an mir vorbei, um sich mir gegenüber an den Tisch zu setzen. Ich zog meine Jacke aus und ließ sie achtlos auf den Stuhl neben mir fallen. Wieder spielte sie an ihrer Kette herum und hörte erst auf damit, als sie bemerkte, dass ich sie dabei beobachtete.

»Einige Gewohnheiten lassen sich wohl nie ganz ablegen, was?«, fragte ich und lächelte sie leicht an. Ich konnte nichts dafür. Meine Mundwinkel hatten sich von ganz allein nach oben bewegt. Vanessa sah mir nun in die Augen, aber ich ertrug das nicht. »Vanessa, mach das bitte nicht«, bat ich sie und richtete meinen Blick auf meine Hände, die unschlüssig auf dem Tisch lagen. »Was soll ich nicht machen?«, wollte sie überrascht wissen. »Mich so ansehen.« Für einen Moment war es still zwischen uns und ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren, aber der Erfolg war eher mittelmäßig. Ich konnte einfach nicht verstehen, was hier los war. »Was meintest du vorhin damit, dass du dachtest, ich sei tot?« Nun wanderte mein Blick doch wieder nach oben und fixierte ihr Gesicht. Warum war diese Frau nur so schön? So schön, dass es schmerzte? Trotzdem sah sie gesundheitlich nicht gut aus, etwas schien sie zu belasten. Ich versuchte, mich davon nicht ablenken zu lassen, also antwortete ich: »Ich habe von dem Unfall gehört in der Silvesternacht. Das kam groß in den Nachrichten. Es war dein Auto. Das dachte ich jedenfalls bis gerade.« Als ich an die schrecklichen Bilder dachte, musste ich wieder schlucken.

Speechless || gxgWhere stories live. Discover now