Kapitel 6

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Den nächsten Tag verbrachte ich im Bett. Ich schlief lange, weil ich von der Arbeit kaputt war. Jede Unterhaltung mit meinen Eltern blockte ich ab oder ich hielt mich kurz, obwohl sich meine Mama entschuldigt hatte und ich dachte, es wäre wieder alles ok. Ich wusste, dass sie mich nur schützen wollten. Ich war nicht einmal richtig sauer, sondern... Ja, was war ich? Enttäuscht? Vielleicht war ich auch ganz einfach nur wütend auf mich selbst. Meine Eltern konnten schließlich auch nichts dafür. Die Erkenntnis brachte mich dazu, am Abend noch einmal das Gespräch zu suchen, obwohl wir bereits darüber gesprochen hatten, aber mein Verhalten heute war falsch gewesen. Als ich nach unten ging, klopfte mein Herz schnell. Mein kindisches Verhalten war mir peinlich und sie hatten eine Entschuldigung verdient. Ich fasste es nicht, dass die Sache mit Vanessa so weite Kreise zog, dass ich sogar Probleme mit meinen Eltern bekam. Das war ihnen gegenüber nicht fair und für mich selbst auch nicht gut. Als ich das Wohnzimmer betrat, schauten sie mich überrascht an und mein Papa stellte den Ton des Fernsehers aus. Anscheinend merkte er, dass ich etwas sagen wollte.

»Können wir kurz sprechen?«, fragte ich und sah auf den Boden. Ich hätte schwören können, dass sie sich in diesem Moment ansahen. Nach einer kurzen Pause erwiderte meine Mama: »Natürlich. Komm her. Setz dich.« Mit wackeligen Beinen ging ich auf sie zu und sie rutschte ein Stück zur Seite. Ich ließ mich fallen und atmete tief durch. Ich musste alles in Ordnung bringen. So konnte es jetzt wirklich nicht weitergehen, dass ich meine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hatte und sie an anderen Menschen ausließ. »Es tut mir leid«, flüsterte ich und unterdrückte die Tränen. Ich wollte jetzt nicht weinen. »Ich habe mich wie eine Idiotin benommen. Ihr könnt nichts dafür, dass Vanessa mich abserviert hat.« Es tat mir weh, diese Worte auszusprechen. Tief in mir drin wusste ich, dass es die Wahrheit war, doch die Erkenntnis schmerzte. Meine Mama legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel. »Ach, Lisa. Das ist schon ok. Entschuldigung angenommen.« Sie lächelte mir leicht zu und ich sah Erleichterung in ihrem Blick. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht ok. Ich versuche, mich zu bessern. Versprochen. Ich komm darüber hinweg und dann bin ich wieder ganz die alte Lisa.«

Ich wusste nicht, ob das die Wahrheit war. Ob ich wirklich wieder ganz die alte Lisa werden konnte. Ob ich das überhaupt wollte. Doch ich wusste, dass ich meine Gefühle wieder in den Griff bekommen musste, denn mein Leben ging weiter. Ich verschwendete meine Zeit mit dem Vermissen. Ich war noch jung und das sollte nicht so sein. Es war ok, wenn ich eine Weile trauerte, aber das ging nun schon einige Monate und irgendwann musste es doch mal aufhören, oder? Sie hatte sich in mein Herz geschlichen und sich dort eingenistet. Jetzt musste ich sie irgendwie wieder rauswerfen. »Wir sind immer für dich da«, mischte sich mein Papa ein und meine Mama nickte bestätigend. Mir fiel ein Stein vom Herzen und dann flossen doch die Tränen. »Ich freue mich, wenn ich dich bald wieder richtig lachen sehen kann«, meinte meine Mama leise und strich mit ihrem Finger die Tränen aus meinem Gesicht. »Die glückliche Lisa gefällt mir nämlich sehr viel besser.« Unter Tränen lächelte ich sie an und dann nahm sie mich in den Arm. »Du bist ein toller Mensch. Vergiss das bitte nie und lass dir nicht von anderen das Gefühl geben, es wäre nicht so.« Ich wusste, dass sie Vanessa damit meinte. Und sie hatte recht.

Ich war nicht mehr der Mensch, der ich noch vor einigen Monaten war. Ich hatte mich verändert. Vanessa hatte mich verändert. Durch sie hatte ich erfahren, wie sich Glück anfühlte, richtiges Glück. Aber auch den Schmerz, der mein Herz zerriss, hatte sie mir gezeigt. Ich wusste, dass ich mich von ihr abhängig gemacht hatte und nun die Konsequenzen dafür tragen musste. Doch könnte ich die Zeit zurückdrehen, hätte ich nichts anders gemacht. Es war alles gut und im nächsten Moment war nichts mehr gut. Als wir uns aus der Umarmung lösten, lächelte ich meine Mama an. »Danke«, flüsterte ich und stand dann auf. »Danke für euer Verständnis. Danke für alles.« Mit den Worten verabschiedete ich mich und ging zurück nach oben. Auf dem Weg dorthin wurde mir wieder einmal klar, dass ich ein letztes Mal mit Vanessa reden musste. Nächste Woche, wenn ich frei hatte, würde ich in die Schule fahren. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte, aber war auf ihre Reaktion gespannt. Ich war der festen Überzeugung, dass sie nicht mit mir reden wollen würde, aber wer wusste das schon. Es waren ja einige Monate vergangen und vielleicht konnten wir wie Erwachsene miteinander umgehen. Ich wollte doch nur eine Erklärung. Sophia würde ich davon nichts erzählen. Sie würde mir davon abraten, obwohl sie es mir vorgeschlagen hatte, aber ich war der festen Überzeugung, dass sie es trotzdem nicht verstehen würde. Mein Verstand sagte mir, dass es falsch war, aber mein Herz war da anderer Meinung. Als ich schließlich einschlief, spürte ich die Aufregung, die sich in meinem Körper breit gemacht hatte. Ich wusste, dass ich sie bald sehen würde und das brachte mich völlig aus dem Konzept.

Speechless || gxgWhere stories live. Discover now