Kapitel 2

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Auch meine Ampel sprang jetzt um und der Mann hinter mir meckerte mich an. Ich verstand seine Worte nicht, aber konnte mir gut vorstellen, dass er es tat, weil ich mich nicht bewegte und er an mir vorbei wollte. Als er an mir vorbeiging, funkelte er mich böse an, doch es war mir schlichtweg egal. Meine Augen füllten sich mit Tränen und die Ampel wurde wieder rot. Ich hatte noch immer Vanessas Gesicht vor Augen. Ich hatte ihren Blick gespürt. Er hatte sich in meine Haut eingebrannt. Schon bevor ich sie entdeckt hatte. Unbewusst hatte ich die Luft angehalten und schnell atmete ich aus. Zu schnell, wie ich feststellte, denn ich verschluckte mich dabei und hustete stark. Als ich mich beruhigt hatte, durfte ich endlich fahren. Ich achtete gar nicht wirklich auf mein Umfeld, ich konnte nur an die Frau denken, die ich noch immer über alles liebte. Die mich aber nicht liebte.

Ich stellte das Fahrrad vor der Bar ab. Sophia, Caro, Anna, Leon und Isabelle waren da. Sven konnte nicht kommen. Meine alte Freundin Marie hatte ich auch eingeladen, doch die war bereits in einer anderen Stadt. Sie war nach Berlin gezogen. Ich umarmte alle und lächelte. Ich versuchte es jedenfalls. Sophia merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Alle gingen in die Bar, doch ich blieb stehen und atmete noch einmal tief durch. »Kommst du, Babe?«, fragte Isabelle Sophia, aber sie raunte ihr zu: »Gleich, geht schon mal rein.« Ich hasste den Kosenamen »Babe«, aber meine beste Freundin schien es nicht zu stören. Dann drehte sie sich um und sah mich fragend an. »Was ist los, Lisa? Ist es wegen heute Vormittag?« Ich schüttelte den Kopf und verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, mit ihr darüber zu reden. »Ich habe gerade Vanessa getroffen.« Entgeistert starrte sie mich an. »Was? Wie? Du hast Frau Vogel getroffen?«, wollte sie wissen und schnappte nach Luft. »Ja. Also nicht direkt getroffen.« Dann erzählte ich ihr von dem Vorfall. Sie zog die Augenbrauen nach oben.

»Unfassbar, wie sehr diese Frau dir den Kopf verdreht hat«, murmelte sie. »Ich denke fast ununterbrochen an sie. Sie fehlt mir so sehr«, erwiderte ich leise und sah auf den Boden. Meine Hände zitterten. Die Begegnung hatte mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Meine beste Freundin griff nach meinen Händen. »Da müssen wir unbedingt etwas gegen machen. Das geht so nicht weiter. Du machst dich ihretwegen nur kaputt. Sie will dich nicht mehr«, meinte sie und ich wusste, dass sie den letzten Satz extra gesagt hatte. Sie hatte recht. Sie wollte mich nicht mehr, doch trotzdem war irgendwo in mir ein kleiner Funken Hoffnung, was ich ihr aber nicht sagte. Ich wusste, dass es vorbei war. Aber nur, weil sie es so entschieden hatte, war es noch lange nicht von meiner Seite aus vorbei, denn das war es auf keinen Fall. »Ich liebe sie«, presste ich hervor und kam mir irgendwie dumm vor. Ich schämte mich nicht für meine Gefühle, nur dafür, dass ich mich so sehr an sie klammerte. Ergab das Sinn?

»Ich weiß, Lisa. Ich weiß«, flüsterte sie mir zu und umarmte mich. Ich roch ihr angenehmes Parfüm und mir wurde wieder einmal klar, dass ich fast unsere Freundschaft ruiniert hatte. Wegen Vanessa. Das hätte ich mir nie verziehen. Doch Sophia und ich hatten es wieder hinbekommen und ich würde fast behaupten, dass unsere Freundschaft sich dadurch gefestigt hatte. »Lass uns reingehen. Die anderen warten sicher schon auf uns«, gab ich von mir und löste mich aus ihrer Umarmung. »Ich bin immer für dich da, wenn etwas ist, ok?« Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich wusste, dass es in ihr nichts auslöste und auch in mir tat sich nichts. Auch Isabelle hatte verstanden, dass zwischen uns nur Freundschaft war. »Danke«, sagte ich leise und sie lächelte mich aufmunternd an. Dann griff sie nach meiner Hand und wir betraten zusammen die Bar, die uns mittlerweile sehr vertraut war.

»Da seid ihr ja endlich«, rief Anna uns zu und wir setzten uns an den reservierten Tisch. Wir bestellten Cocktails und Snacks, dann tauschten wir uns angeregt über den ersten Tag aus. Als Sophia und ich an der Reihe waren, übernahm sie zum größten Teil das Reden und ich ergänzte hin und wieder etwas. Es war echt verrückt, dass wir jetzt keine Schülerinnen mehr waren. Ab morgen würde der richtige Ernst des Lebens starten, dachte ich ehrfürchtig. Als der Alkohol irgendwann etwas wirkte, entspannte ich mich etwas. Ich konnte die Begegnung nicht vergessen, doch die anderen lenkten mich immerhin ab. Zu Hause würde ich sowieso nur im Bett liegen und weinen. Tolles Leben, Lisa. Echt ganz tolles Leben. Mir war klar, dass es weitaus schlimmere Dinge gab als Liebeskummer. In anderen Ländern wurden die Menschen mit Bomben beworfen, sie hatten kein eigenes Zuhause, nicht genug Essen für die Familie oder starben jung. Doch auch, wenn ich an all die fürchterlichen Dinge dachte, linderten sie nicht meinen eigenen Schmerz. Eher im Gegenteil. Er wurde nur schlimmer. »Alles in Ordnung?«, fragte Leon und beäugte mich von der Seite. »Du bist so still.« Ich wollte ihm sagen, dass nicht alles in Ordnung war, aber stattdessen meinte ich: »War ein anstrengender Tag. Mach dir keine Sorgen.« Er war nicht überzeugt, doch ließ mich in Ruhe.

Speechless || gxgOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz