Kapitel 5

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Nachdem ich das Buch zurück in den Beutel gestopft hatte, verließ ich damit die Küche und ging nach oben in mein Zimmer. Ich wollte meine Eltern heute nicht mehr sehen. Ich war zu verletzt. Es lag eigentlich nicht einmal wirklich an ihnen, sondern an Vanessa. So wie gefühlt immer. Ich wollte meine Wut nicht an ihnen auslassen, das hatten sie nicht verdient. Nicht nach all dem, was sie für mich getan hatten. Als ich mein Zimmer betrat, war meine Müdigkeit, die mich den ganzen Tag über begleitet hatte, verflogen. Am liebsten wollte ich Vanessa anrufen, doch das ging nicht. Wahrscheinlich würde ich sowieso kein Wort herausbringen, sobald sie das Gespräch annahm. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich ihr sagen sollte. Außerdem hatte sie mich blockiert. Achtlos warf ich den Beutel in die Ecke meines Zimmers, in der sich auch mein Bücherregal befand. Das Buch fühlte sich auf der einen Seite wie ein Fremdkörper an, aber auf der anderen Seite trotzdem sehr vertraut. Ich wollte es aber nicht mehr sehen und berühren.

Ein Schnurren riss mich aus meinen Gedanken. Emma lag auf meinem Stuhl und hatte sich gerade gestreckt. Sie lugte über die Stuhllehne und sprang anmutig auf den Boden. Mit kleinen Schritten kam sie auf mich zu und schlängelte sich um meine Beine. Ich nahm sie auf den Arm, drückte mein Gesicht gegen ihren Rücken und roch an ihrem Fell. Es roch nach Emma. Ihr Geruch blieb in all den Jahren unverändert und das mochte ich. Dafür, dass ich Veränderungen im Allgemeinen nicht besonders mochte, hatte ich in den letzten Monaten so einige erlebt, die mir wieder einmal bewiesen, warum ich sie nicht ausstehen konnte. Natürlich waren nicht alle Veränderungen schlecht. Ich hatte Vanessa getroffen. Damals empfand ich es als Segen und heute lastete es wie ein Fluch auf mir. Hätte ich sie nicht getroffen, wüsste ich jetzt wahrscheinlich nicht, was bedingungslose Liebe war. Dann hätte ich aber vielleicht auch kein gebrochenes Herz, was sich nicht zusammenflicken ließ. Ich hatte auf die Wunde viele Pflaster geklebt, doch immer wieder hatte ich das Gefühl, sie würde neu aufreißen und die Gefühle würden heraussickern. Doch kein Herz blutete ewig, oder? Oder konnte das sogar chronisch werden? Würden irgendwann so viele Gefühle heraussickern, dass ich emotional leer war? War das möglich?

Mir war bewusst, dass ich meine Gedanken gerade wandern ließ, aber das war mir egal. Ich würde gerade alles dafür geben, nichts zu fühlen. Jedenfalls galt das für den Schmerz. Freude wollte ich verspüren. Viel Freude. Ich wollte lachen und leben. Frei sein. Doch ich wollte es mit Vanessa und zu begreifen, dass das nicht mehr möglich war, ließ mein Herz schwer werden. Wenn ich einen lustigen Witz hörte, wollte ich ihn ihr sofort erzählen. Wenn ich eine neue Stadt erkundete, wollte ich es mit ihr machen. Wenn ich einen Sonnenuntergang sah, wollte ich, dass sie dabei war und sie sanft ihren Arm um mich legte und ihren Kopf an meine Schulter lehnte. Ich wollte ihr von meinem Alltag erzählen und wollte wissen, wie ihr Tag war. Ich wollte für sie da sein, wenn sie krank war. Ich wollte sie überraschen. Ich wollte meine Geburtstage und die Feiertage mit ihr verbringen. Ich wollte... Ich musste schlucken und ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. Ja, ich wollte diese Frau heiraten und ein Kind mit ihr bekommen. Jedenfalls hatte ich viel darüber nachgedacht. Natürlich waren wir nie offiziell zusammen gewesen und hatten nie zusammen gewohnt. Ich hatte noch nicht einmal ihre Familie kennengelernt und unsere Zeit zusammen war im Vergleich zu einem ganzen Leben viel zu gering gewesen. Doch sie hatte sich entschieden. Gegen mich. Gegen eine gemeinsame Zukunft mit mir.

Mit der Katze auf dem Arm ließ ich mich auf das Bett fallen. Sie schmiegte ihren Kopf an meine Hand und ich kraulte ihr die Stelle hinter den Ohren, das mochte sie besonders gern. Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Ich hob den Kopf und meine Mama steckte den Kopf in das Zimmer. »Darf ich reinkommen?« Ich wollte sie anschreien, dass sie verschwinden sollte, doch brachte es nicht über das Herz. Ich sah ihr an, dass sie sich auch nur Sorgen machte. »Komm rein«, antwortete ich ihr stattdessen und sie setzte sich ebenfalls auf das Bett. Emma sprang auf und machte sich aus dem Staub. »Es tut mir wahnsinnig leid, Lisa. Ich hätte es dir früher sagen müssen. Ich wusste nur nicht, wie du damit umgehen würdest. Ich weiß, es ist deine Sache, aber vielleicht verstehst du, dass ich dich nur schützen will. Du bist mein Kind.« Ich flüsterte: »Ich weiß, Mama.« Dann nahm sie mich in den Arm und das sorgte dafür, dass ich nicht mehr mit dem Weinen aufhören konnte. Ich schluchzte eine ganze Weile und sie hielt es aus. Sie hielt mich aus. Beruhigend streichelte sie mir über den Kopf und gab mir alle Zeit der Welt. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, gab ich zu, als ich mich wieder etwas unter Kontrolle hatte. »Ich kann die Gefühle einfach nicht abstellen. Alles erinnert mich an Vanessa.«

Speechless || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt