Kapitel 1

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Der Tag hatte für mich sehr früh begonnen. Ich hatte die letzten Monate mit Einschlaf- und Durchschlafproblemen zu kämpfen, deshalb wunderte es mich nicht, dass es auch in dieser Nacht so war. Ich hatte mich von links nach rechts gewälzt und wieder zurück. Unendlich viele Gedanken waren mir durch den Kopf geschossen und irgendwann war ich wieder wütend geworden. Das machte mich krank. Es war nicht fair, dass Vanessa ein Häufchen Elend aus mir gemacht hatte und ich mich ihretwegen so quälte. Ja, es war einfacher, die Schuld anderen Menschen in die Schuhe zu schieben, so wie ich es gerade tat. Tief in meinem Inneren wusste ich aber, dass ich selbst für meine Gefühle verantwortlich war und loslassen musste.

Ich starrte an die dunkle Decke und spürte, wie die Tränen seitlich an meinen Wangen hinabliefen. Sie flossen in meine Ohren und alles war feucht, doch es störte mich nicht. Die Decke musste eigentlich schon ein Loch haben, weil ich sie so oft ansah. Was war nur aus mir geworden? Ich konnte es nicht begreifen. Alles in diesem Zimmer erinnerte mich an Vanessa. Ihr Weihnachtsgeschenk stand noch immer gut verschlossen in meinem Schrank. Ich konnte mich davon nicht lösen, auch wenn es dumm war, denn ich würde diese Sachen niemals in ihre Wohnung stellen können und benutzen würde ich sie auch nicht. Ich würde Vanessa nie wieder berühren und küssen können. Nie wieder ihrer Stimme lauschen und mich in ihren Armen geborgen fühlen. Nie wieder in ihre aufregenden Augen schauen und mich von ihrem Lachen umhauen und anstecken lassen. Unsere gemeinsame Zeit war vielleicht relativ kurz gewesen, aber dafür empfand ich sie als sehr intensiv. Es schmerzte, dass ich ihr nun egal war. Dass es sie nicht mehr interessierte, wie es mir ging. Wenn es überhaupt jemals so gewesen war. Ich dachte an das Hörbuch, was ich ihr geschenkt hatte. Meine Geschichte hatte ein Happy End, nur die Realität hatte andere Pläne für uns.

Es war nicht einmal die Distanz, die mir wehtat. Es war viel eher die Nähe, die einmal da war, die mich nun verletzte. Ich wollte nicht in alten Erinnerungen leben, die mich immer wieder zum Weinen brachten. Ich wollte neue Erinnerungen schaffen. Mit ihr. Ich konnte sie doch nicht einfach aus meinem Leben streichen. Wie sollte das funktionieren? Eine ganze Weile lag ich wach in meinem Bett und dachte an verschiedene Situationen, die wir miteinander erlebt hatten. Es war die eine Sache, dass sie mich abgewiesen hatte. Doch die andere Sache war: Wie konnte sie nur bei Eric bleiben? Bei diesem widerlichen Mann? Sie wusste, was er getan hatte oder vielleicht wollte sie es nicht wahrhaben. Ich hatte keine Ahnung. Doch allein, dass er sie geschlagen hatte, war doch Grund genug, ihn zu verlassen. Auch zum Schutz ihres Sohnes.

Wie konnte sie mir sagen, dass ich alles für sie gewesen war, wenn ich am Ende nichts für sie war? War ich ihr wirklich zu wenig gewesen oder doch zu viel? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich nun aufstehen musste, denn heute war der erste August. Mein allererster Ausbildungstag stand vor der Tür und ich war mehr als aufgeregt. Ich war nicht unbedingt schüchtern und ich hatte mir ein wunderschönes Hotel ausgesucht. Beim Vorstellungsgespräch waren sie begeistert von mir gewesen und auch das Probearbeiten war gut gelaufen. Doch trotzdem hatte ich Zweifel, die leise an mir nagten. Ich hatte Angst davor, nicht zu genügen. Nicht auszureichen. Nicht den Ansprüchen zu entsprechen. Mein Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein waren gesunken, aber so ging es nicht weiter. Mit einem Seufzen erhob ich mich und schlich ins Bad. Ich wohnte noch immer bei meinen Eltern und das war gut so. Eine eigene Wohnung wäre für mich aktuell keine gute Idee und während der Ausbildung verdiente ich nicht unbedingt viel Geld, sodass ich zu Hause wohnen blieb.

Ausgiebig duschte ich und dachte an das, was mich später erwarten würde. Heute gab es einen Einführungstag. Zuerst würden sich alle Azubis versammeln und begrüßt werden, dann gab es eine große Hausführung, anschließend eine Stadtführung und am Ende ein Mittagessen im hauseigenen Restaurant. Außerdem würden wir unsere Namensschilder und Karten bekommen und die Dienstkleidung anprobieren, die bereits für uns bestellt war. Ich freute mich auf die Ausbildung und vor allem auf die Abwechslung, doch trotzdem wanderten meine Gedanken wieder zurück zu Vanessa. Wie gern ich ihr davon berichtet hätte. Es war doch ironisch, dass ausgerechnet die Person mir den Kummer von der Seele nehmen konnte, die ihn verursachte. Das war nicht fair. Ich schüttelte wild den Kopf, so als würden die Gedanken dadurch verschwinden, doch das geschah nicht. Ich ließ mir viel Zeit beim Duschen, denn ich musste erst kurz vor 9 Uhr im Hotel sein. Als ich kurze Zeit später in die Küche kam, hatte ich damit gerechnet, alleine zu sein, aber meine Eltern strahlten mich beide an.

Speechless || gxgWhere stories live. Discover now