Kapitel 37

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Es war Freitagnachmittag und die Schule hatte vor einer halben Stunde geendet. Da ich freitags glücklicherweise nur bis zur sechsten Stunde Unterricht hatte, beschloss ich, noch einen kurzen Abstecher in die Stadt zu machen, da ich einen Roman, den ich in dem örtlichen Buchladen bestellt hatte, noch abholen musste.

Doch kurz bevor ich vor dem kleinen Fachwerkhaus angekommen war, stieß ich mit einem großgewachsenen Jungen zusammen.

„Oh, sorry", er grinste mich schief an und griff nach dem Buch, das er fallen gelassen hatte.

„Kein Problem", sagte ich schnell und wollte schon weitergehen, als mir auffiel, dass er mir verdammt bekannt vorkam.

„Hey, warte mal eine Sekunde!", reif ich und er drehte sich zu mir um.

„Was ist denn?", fragte er freundlich und strich sich eine lange dunkelbraune Strähne hinters Ohr. Ohne Zweifel, er war es. Der Junge aus dem Park.

Ich starrte ihn mit offenem Mund an.

„Ist alles okay?", erkundigte er sich verwundert und ich klappte hastig den Mund zu und nickte. Ich wusste, dass das hier die perfekte Gelegenheit war, um endlich die Wahrheit zu erfahren.

„Sag mal, kann es sein, dass wir uns kennen?", fragte ich, in der Hoffnung, ein Gespräch beginnen zu können.
Er runzelte die Stirn. „Tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass ich mich an dich erinnere."

Ich legte eine Hand ans Kinn und tat so, als würde ich überlegen. „Oh, richtig, ich glaube, ich habe dich mal gesehen, als ich mit Minou im Park war."

Seine Miene hellte sich auf und er lächelte mich an. „Du kennst Minou?"

Volltreffer.

Ich nickte. „Du etwa auch?"

„Ja klar, sie ist meine Cousine."

Warte was?
Cousine? Wieso war Minou damals denn vor ihrem Cousin geflohen?

Ich musste wohl genauso verwirrt ausgesehen haben, wie ich fühlte, denn er musste lachen. „Ist die Vorstellung etwa so abwegig? So unähnlich sehen wir uns doch gar nicht."

Er hatte recht. Jetzt, wo ich ihn genauer betrachten konnte, stellte ich fest, dass er ihr sogar extrem ähnlich sah. Sie hatten nicht nur die gleichen Haare und leicht asiatisch anmutenden Gesichtszüge, er hatte sogar die selben goldenen Punkte in den Augen, nur waren sie bei ihm noch ausgeprägter als bei Minou.

„Ich bin übrigens Janny", stellte er sich vor und streckte mir die rechte Hand hin. In der linken hielt er immer noch das Buch.

„Vera", ich ergriff seine Hand und schüttelte sie.

„Und woher kennst du Minou?", fragte Janny und deutete mit einer kleinen Handbewegung auf die freie Bank, die direkt vor dem Buchladen stand. Wir setzten uns.

„Nun ja ehm es ist ziemlich kompliziert", sagte ich. „Aber wir gehen auf die selbe Schule."

„Oh cool", er lächelte mich aufmunternd an und ich wusste, dass ich ihm vermutlich zumindest einen Teil der Wahrheit erzählen musste, wenn ich den Grund für Minous Verwandlung erfahren wollte.

Aber was ist, wenn ich damit irgendeine Art Schaden anrichten würde? Es musste schließlich einen Grund geben, weshalb sie damals abgehauen war.
Auf der anderen Seite schien Janny wirklich nett zu sein.

Ich beschloss, erstmal ein bisschen Smalltalk zu führen, um ihn besser einschätzen zu können. Vielleicht schaffte ich es ja sogar, ihm unbemerkt die Informationen zu entlocken, die ich brauchte.

Ich deutete auf das Buch, das er sich mittlerweile auf den Schoß gelegt hatte. „Was liest du da?"

Er drehte es um, damit ich das Cover sehen konnte. Es war Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Ich liebte das Buch.

„Cool, das ist toll!", sagte ich und er nickte. „Ja, ich weiß, ist aber nicht für mich, sondern für meinen Freund. Kannst du dir vorstellen, dass wir seit zwei Jahren zusammen sind und ich einfach trotzdem nicht wusste, dass er dieses Meisterwerk nie gelesen hat?"

Sein ... Freund? Minous Cousin hatte einen festen Freund? Ich verstand das alles plötzlich noch viel weniger.

„Ich bin lesbisch!", platzte ich heraus, nur um danach zu bemerken, wie unfassbar komisch das gerade geklungen haben musste. Er sah mich etwas verwirrt an.

„Ehm, cool", er musste lachen und ich wurde rot. Gott, war das peinlich.

„Sorry", murmelte ich, doch er schüttelte immer noch lachend den Kopf. „Das muss dir doch nicht leidtun. Ich bin übrigens schwul."

„Und Minou ist bi", murmelte ich, ohne darüber nachzudenken. Janny sah mich überrascht an. „Ach echt?"

Oh fuck.

„Nein?", meine Stimme war um drei Oktaven höher als sonst und das Wort kam eher als eine Art Kieksen heraus.

Plötzlich schien ihm ein neuer Gedanke zu kommen und er grinste über das ganze Gesicht. „Sag bloß, ihr hattet was miteinander!"

Mein Gesicht musste mittlerweile den Farbton einer Grapefruit angenommen haben.
„Ehm, also", stotterte ich.

„Verdammt, ich wusste, die Kleine hat was drauf!", seine Augen blitzten auf, als wäre es die beste Nachricht der Welt, dass seine Cousine mal etwas mit einem Mädchen am Laufen hatte.

„Seid ihr denn immer noch zusammen?", erkundigte er sich und ich schüttelte den Kopf.
„Nein, leider nicht", meine Stimme klang trauriger als beabsichtigt.

„Oh, scheiße, sorry", sagte er schnell und sah dabei aus, als täte es ihm wirklich leid. „Darf ich fragen, woran es gescheitert ist?"

Ich wusste, dass das die perfekte Gelegenheit war, die Wahrheit herauszufinden. Er hatte mir die Möglichkeit, um ihn auf das Thema anzusprechen, praktisch auf dem Silberteller serviert.

„Naja, genau genommen lag es vermutlich an dir", sagte ich nach einem kurzen Zögern.

Janny sah mich mit vor Verblüffung weit geöffneten Augen an. „Wie bitte was?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe dir doch erzählt, ich dich mit Minou im Park gesehen hatte. Wir waren da in einem Café und du kamst irgendwann vorbei. Sie ist dann direkt aufgestanden und gegangen und danach war es einfach vorbei. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht so genau, weshalb sie danach den Kontakt zu mir abgebrochen hat."
Ich sah zu ihm auf und setzte den unschuldigsten Blick auf, den ich hinbekam. „Hast du vielleicht eine Idee wieso?"

„Scheiße Mann", Janny biss sich auf die Unterlippe und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht bloß eine Vermutung hatte, sondern genau wusste, weshalb sie so reagiert hatte.

„Also?", hakte ich nach. Die Spannung zerriss mich förmlich, jetzt, wo ich spürte, dass ich so knapp davorstand, endlich die Wahrheit herauszufinden, doch Janny klemmte sich eilig das Buch für seinen Freund unter den Arm und sprang auf.

„Sorry, Vera, aber ich muss ganz dringend zu Minou!", rief er und war schon fast hinter der nächsten Ecke verschwunden.

„Warte doch!", rief ich ihm hinterher, doch das einzige, das noch an ihn erinnerte, war der leere Platz neben mir auf der Bank.

„Verdammte Scheiße!", schrie ich frustriert gen Himmel und erntete dafür einen mahnenden Blick von einer jungen Frau mit Kinderwagen, die gerade aus der Buchhandlung trat.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Zebrawelt ✔Where stories live. Discover now