5. Cause i'd get a thousand hugs from ten thousand... moths?

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Die weltgrößte Nachtfalter-Sammlung war auch auf die Treppe ausgeweitet und Livia fragte sich echt, woher zum Teufel, die alle kamen? Ein paar weitere schwirrten vereinzelt in der Luft herum, vermutlich auf der Suche nach einer freien Stelle. Sie schnippte nach einem Falter, der sich auf Minhs Schulter niederließ. Mittlerweile waren sie sich sicher, dass... das nicht normal war, selbst nicht für ein Haus mit (vermutetem) Bewusstsein.

Sie waren auf ihrem Weg in den ersten Stock, als wie auf ein stilles Kommando die Insekten anfingen, mit ihren Flügeln zu schlagen. Minh und Livia erstarrten in ihren Bewegungen auf den letzten Treppenstufen. Das konnte nicht gut sein.
Und dann, als wäre ein zweites Kommando gefolgt, stürzten sich die Nachtfalter auf die beiden Hexen.

Livia schrie auf als sie fast vollständig von Nachtfaltern umhüllt wurde, stolperte die letzten Stufen herunter und stürzte auf den Boden. Immer mehr Nachtfalter kamen und legten sich um sie, wie ein Kokon. Ihre ganze Welt schien nur noch aus Flügeln und den kleinen Körpern zu bestehen. Sie konnte sich kaum bewegen und stellte mit Schock fest, wie ihr Bewusstsein in eine unheimliche Dunkelheit versank. Was war hier los?

Sie versuchte an ihrem letzten Bewusstsein festzuhalten, was sich anfühlte als würde sie Cornflakes Flocken einzeln vom Boden klauben, und konzentrierte sich ihre Magie in ihren Fingern zu sammeln. Sie biss die Zähne zusammen und konnte die leichte Vibration spüren und wie ihre Hände warm wurden.
Feuer entflammte von ihren Fingerspitzen und verbrannte die kleinen Kreaturen der Nacht. Livia schlug mit dem Feuer um sich und kämpfte sich auf die Beine, wobei sie gefährlich schwankte. Zwischen den ganzen Flügeln konnte sie sehen, wie auch Minh mit der gleichen Idee wieder auf die Beine kam. Die Falter flatterten immer noch um sie herum und versuchten sie wieder einzumummen.

Minh und Livia warfen sich einen Blick zu, bevor gleichzeitig zur ersten Tür rannten. Das musste Callas Zimmer sein, wenn sich Livia noch korrekt an die kleine Tour von Aramis erinnerte.
Sie war nicht geschlossen und die beiden stürzten herein. Livia schlug die Tür hinter ihnen zu, während Minh fast hinfiel in ihrer Hast, die Fenster zu schließen.
»Calla, es...«, fing Livia schwer atmend an und stockte.

Auch in diesem Zimmer saßen überall Nachtfalter. Sie sah angsterfüllt zum Bett. Callas ganzer Körper war von Faltern bedeckt, dass man die alte Frau nicht mehr darunter sehen konnte.
Minh rannte vom Fenster zu ihr und entflammte wieder das Feuer in ihrer Handfläche. Die kleinen Körper der Insekten verkohlten augenblicklich und gaben die ältere Hexe frei. Dabei versuchten die Nachtfalter größtenteils nicht einmal von der tödlichen Gefahr zu fliehen.
»Pass mit dem Feuer auf«, warnte Livia Minh, die versuchte sämtliche Falter auf Calla zu töten.

Es waren nur noch eine Handvoll auf der alten Hexe, als diese die Augen aufschlug.
Geschockt und verwirrt wanderte ihr Blick von Minh zu Livia, bevor sie sich abrupt aufrichtete.
»Was tut ihr hier?«, fragte sie laut. »Was ist hier los?«
»Beantworte du uns das«, gab Livia energisch zurück. »Draußen sieht es aus, als hätte jemand den Rattenfänger von Hameln mit Nachtfaltern nachgespielt!«
Minh legte ihrer Freundin beruhigend die Hand auf die Schulter. »Überall im Haus sind Nachtfalter. Sie scheinen einen Zustand der Bewusstlosigkeit auszulösen, wenn sie sich auf einen setzen«, erklärte sie etwas sanfter.

Calla sah sich im Zimmer um, dann wandte sie sich wieder den beiden zu, die Augen weit aufgerissen vor Erkenntnis.
»Nein«, hauchte sie tonlos und schwang sich hektisch aus dem Bett. »Wo hast du das Buch?«, schrie sie schon fast in einer Panik.
»Ich... ich habe es in der Bibliothek gelassen«, stotterte Minh überrumpelt.
»Wir müssen die anderen wecken«, machte die ältere Hexe weiter und strich sich hektisch über das weiß-blonde Haar, das ihr wie Fäden über das Gesicht hingen.
Minh sah Hilfe suchend zu ihrer Freundin, doch diese war genau gleich verwirrt, was hier vorging.
»Ich hole das Buch, du hilfst die anderen zu wecken«, wies Livia schließlich zu, als sie aus dem Zimmer rannte und sie auf die Treppe zustürzte. Mittlerweile waren die Nachtfalter in der Luft und nicht mehr am Boden. So musste sie sich auch keine Gedanken machen, aus Versehen eines der Insekten zu zerquetschen und es später von ihrem Fuß kratzen zu müssen.

Die schmale Treppe in die Bibliothek gab ein empörtes Knarren von sich, als Livia hoch sprang und achtlos die Tür aufschlug, dass die Glasfassung in der Tür nur so klirrte.
Als Erstes sah sie das Buch auf dem Tisch liegen. Augenblicklich griff sie danach, dann sah sie das offene Fenster und erst viel zu spät registrierte sie einen großen Schatten im Augenwinkel.
Erschrocken riss sie den Kopf herum, um ihn genauer zu sehen.

Der Mann zog leicht die Brauen hoch, während Livia ihn wie angewurzelt anstarrte. Der Mond stand gerade in der richtigen Position, um durch das Fenster der Bibliothek zu scheinen, so, dass sie ihn hin zu seinem langen Mantel im silbernen Licht erkennen konnte. Braune Locken, die er schulterlang trug, scharfe Gesichtszüge, der Mondschein war hell genug, dass sogar die Stoppeln auf seiner Wange erkennbar waren.

»Du wurdest also gebeten, die Schutzzauber zu erneuern?« Seine Stimme jagte ihr einen Schauer den Rücken runter, jede noch so kleine Bewegung von ihm schien berechnet zu sein. Livia schüttelte sich und straffte die Schultern.
»Wer zum Teufel bist du?«, rief sie aus. Livias Unterbewusstsein hatte die dumme Angewohnheit (oder Selbstüberschätzung) bei einem fight or flight Reflex so gut wie immer auf ersteres zu setzten.

»Das musst du nicht wissen, Mädchen«, antwortete er ihr. Sie hob die Hände, um Magie heraufzubeschwören, doch er war schneller. Ein schwaches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, wie als Entschuldigung, während er die Hand ausstreckte, als wäre er Darth Vader, der die Macht nutzte.
Livia wollte sich bewegen, aber sie konnte nicht. Sie spürte die Magie als hätte man einen tauenden Eiszapfen genau über ihrem Nacken platziert und das eiskalte Wasser tröpfelte langsam ihre Wirbelsäule runter.
»Du musst verstehen, dass ich schon lange nicht mehr so nahe war«, sprach er ruhig weiter. »Ich kann diese Chance nicht verstreichen lassen. Bitte verzeih mir.« Wie eine eiserne Hand legte sich etwas um Livias Brustkorb und drücke sich zusammen. Sie wimmerte, das zweite Mal in dieser Nacht, bekam sie keine Luft mehr. Für eine Sekunde konnte sie fast schon etwas wie Mitleid in seinen Augen aufblitzen sehen.
Erneut knallte die Bibliothekstür gegen die Wand und der Mann wurde nach hinten in eines der Regale geschleudert. Befreit von der Magie fiel Livia auf die Knie und zog zitternd die Luft ein.
Margery machte einen Schritt in den Raum, mit einem wütenden Ausdruck. Ihre Augen wichen nur für eine Sekunde von dem Mann und glitten zu der jungen Hexe.
»Verschwinde!«, fauchte sie. 

Das Herz der HexenWhere stories live. Discover now