12. Das ist kein anatomisch korrektes Herz!

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Das Smartphone rutschte ihr aus der Hand und schlug auf dem Boden auf, aber das drang nicht zu ihr durch. Die Kerze spendete gerade genug Licht, damit Livia erkennen konnte, was vor ihr war...

Das Herz der Hexen.

Sie erinnerte sich an das Bild bei der Treppe. Aber die Gesichtszüge waren härter, das Kinn schmaler, die Nase war kleiner und auch die Augen waren ovaler, aber der größte Unterschied war die Haarfarbe. Auf dem Bild als dunkles Braun dargestellt, so wirkten sie im Kerzenschein schneeweiß.

Wilhelmina kniete am Boden, das Kinn auf die Brust gesunken und die Arme ausgestreckt und von Wurzeln umwickelt als sei sie Jesus am Kreuz. Es hatte schon fast etwas schmerzhaft ironisches, dass sie starb um ihre Leute zu beschützen, vor anderen, die im Namen des Christentums handelten.
Livia stolperte ein paar Schritte nach vorne und fiel neben dem Hocker auf die Knie, um einen besseren Blick auf die Frau zu kriegen. Da die Zeit hier unten nicht ihre gewöhnliche Macht zu haben schien, war ihre Leiche fast perfekt konserviert worden.

Wurzeln hatten sich nicht nur um ihre Arme, sondern auch um ihre Beine, Taille und ihren Hals gewickelt mehr wie bei einer Schlingpflanze als bei einem normalen Baum.
Livias Kehle war zugeschnürt, als hätte sich auch eine Wurzel um ihren Hals zugezogen. Das war es also, was sie in der Vision gepackt hatte... was sie festgehalten hatte. Ihr Handgelenk zeigte immer noch gelb-braune Flecken, aber glücklicherweise schienen die Wurzeln sich nicht zu bewegen. Auch sie waren in diesem regungslosen, zeitlosen Zustand, dem nur die Kerze zu trotzen schien.

Livia warf einen besorgten Blick zur Tür, in ihrer Vision war sie abgeschlossen gewesen, bevor sie sich wieder dem Herzen zuwandte.
Ob Laertes davon wusste oder hatte er sich nie gewundert, wo die Leiche seiner Frau abgeblieben war?

Livia streckte vorsichtig die Hand aus. Der Körper wirkte allgemein abgemagert und ausgemergelt und sie fragte sich, wieso man ihn hier gelassen hat. Vielleicht konnte man ihn nicht entfernen oder... sie ließ die Hand in der Luft halten, ein grausiger Gedanke zuckte durch ihren Kopf. Was, wenn ihr Körper das Herz war? Wenn die Magie immer noch durch den Körper pumpte, obwohl Wilhelmina selbst schon lange tot war.

Sie schreckte zurück und warf beinahe den Hocker um, als Wilhelminas Kopf auf die Seite kippte. Sie hatte die Leiche nicht berührt... das war nicht ihre Schuld (hoffte Livia zumindest). Sie zählte innerlich auf fünf, um ihren eigenen Herzschlag zu beruhigen, bevor sie sich auf allen vieren erneut der Leiche näherte. Die Haut am Nacken schien noch intakt zu sein, daher vertraute Livia mal darauf, dass der Kopf nicht gleich abfällt. Das würde sie Calla eindeutig nicht erklären wollen.

Sie senkte ihren Oberkörper etwas, um Wilhelmina ins Gesicht sehen zu können. Livia war erfüllt von einer morbiden Faszination. Die Leiche war für 400 Jahre absolut perfekt konserviert worden und mit der flackernden Lichtquelle wirkte es fast, als würde sich ihre Miene verändern... als würden sich die Augen unter den Lidern bewegen...

Livia erstarrte.
Das war keine Einbildung durch das Lichtspiel.

Wilhelmina kniff die Augen zusammen und öffnete sie blinzeln. Sie kniff die Augen erneut zusammen, bevor sie es schaffte, die junge Hexe in Fokus zu nehmen. Livia erstarrte in ihrer Position während sich die rissigen Lippen leicht öffneten.

»Bist du ein neuer Bewohner des Hauses?«, fragte sie so leise, dass Livia sie kaum hören konnte mit rauer Stimme. Livia starrte sie an, ihre Gesichter ungefähr eine Handbreite voneinander entfernt, unfähig einen Ton herauszubringen. »Was ist mit der alten Frau passiert? Ich dachte, die lebt noch«, murmelte Wilhelmina weiter und richtete den Kopf wieder auf. Das Kerzenlicht zeichnete ihre eingefallenen Wangen und die in den Höhlen liegenden Augen stärker ab und unter der dünnen Haut des Ausschnittes ihrer Bluse konnte man die einzelnen Rippen sehen. Sie war wirklich nichts mehr, das man als lebend identifizieren würde.

»C... C... Calla?«, stotterte Livia und wich langsam etwas zurück.
Wilhelmina nickte kaum merklich. »Es gibt zwei neue Leute, seid ihr hier für die Schutzzauber?«, fragte sie weiter mit schwacher Stimme. Sie kniff die Augen zusammen, zu sprechen schien anstrengend für sie zu sein.
»Hat... Calla dir davon... davon erzählt?«, wollte Livia immer noch in Schockstarre wissen.
Etwas, das vielleicht ein Lächeln sein sollte, zuckte über Wilhelminas rissige Lippen. »Ich bin mit dem Haus verbunden, ich kriege mit wer hier wandelt.«

Das hätte sich Livia irgendwie denken können und es würde auch ihre Frage nach dem Bewusstsein des Hauses beantworten, aber ihr Hirn hat seine Bürotür zugeknallt, sie verbarrikadiert und weigerte sich nun irgendwelche Arbeiten zu übernehmen.

»Was... ich...«, begann Livia, aber anscheinend hatte sich ihre Fähigkeit ganze Sätze zu formulieren mit ihrem Hirn verschanzt. »Wir... Calla...«, machte sie trotzdem weiter.
»Geh«, forderte Wilhelmina sie schließlich auf und ließ den Kopf in den Nacken fallen, »du hast hier unten nichts verloren.«
Livia öffnete noch einmal den Mund, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie konnte doch nicht einfach gehen. Nicht nach dieser Entdeckung. Sie war hier unten eingesperrt... oder? Livia wusste nicht mehr, was sie denken sollte.

Wilhelmina hatte den Kopf wieder gehoben und sie immer noch auffordernd an. Ein schwaches Grinsen zuckte über ihre Lippen, als wolle sie Livia Mut machen.
»Geh!«, wiederholte sie, sie wirkte fast schon genervt. Livia rappelte sich vom Boden auf, ohne richtig zu wissen, was vor sich ging. Sie las ihr Smartphone auf und ging zur Tür. Bevor sie den Raum verließ, sah sie nochmals zu Wilhelmina zurück. Diese kniete noch immer absolut ruhig auf dem Boden und sah Livia ohne jegliche Gefühlsregung hinterher während die Schatten über ihr Gesicht tanzten.

Nicht einmal die Kälte spürte Livia so recht, als sie den Gang entlang wanderte und die Treppe wieder hochstieg.
Albus saß immer noch (oder wieder) vor dem Kellereingang und musterte sie, als sie die schwere Kellertür weiter auf zog.

»Hey, Kleiner«, murmelte Livia schwach, während sie die Tür zu zog und Albus ihr um die Beine strich. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie zeigte jetzt Viertel nach ein Uhr an. Die rot leuchtenden Ziffern der Backofenuhr zeigten aber, dass es fast zwei war. Sie als gute dreiviertel Stunde unten gewesen.

Sie streichelte dem Kater über den Kopf, bevor sie sich auf den Rückweg ins Zimmer machte. Beim Baum stoppte sie kurz, es wirkte, als hätte er in dieser Zeit noch mehr Blätter verloren und mittlerweile war der Blätterverlust in der Krone deutlich sichtbar. Sie hätte Wilhelmina darüber fragen sollen... sie hätte Wilhelmina allgemein viel fragen sollen. Kurz überlegte sie sich zurückzugehen, entschied sich aber dagegen. In der Tiefe ihres Hirns regte sich die Hoffnung, dass alles nur ein Traum war und sie den Wecker verschlafen hatte. Sie konnte Wilhelmina doch nicht da unter lassen... aber sie hatte keine Anstalt gemacht nach Hilfe zu fragen. Was war hier los?

Sie schloss leise die Tür ihres Zimmers und sank daran zu Boden. Sie hatte gehofft, beim Herz würde sie Antworten finden, stattdessen fand sie da unten nur noch mehr Fragen und noch etwas viel Schlimmeres.

Sie wusste immer noch nicht, zu wem Laertes mit 'sie' referiert hatte, wer den Baum zerstört. War es Calla? Wilhelmina selbst? Wusste Laertes überhaupt, dass Wilhelmina das Herz war? Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Sie hatte das Gefühl, das Pochen des Hauses noch stärker als sonst zu spüren, aber es war ja eigentlich nicht das Haus, jedenfalls nicht direkt. Wilhelmina hatte es nie geschafft, ihre Magie von sich zu lösen und das Herz zu erschaffen. Vielleicht hatte sie es nicht einmal versucht. Sie hatte sich mit dem Haus verbunden, als wäre es eine Erweiterung ihres Körpers. Es war ihr Herzschlag, mit dem die Magie durch das Gebäude strömte.

Was wird Laertes tun, wenn er rausfindet, dass das, um was er für 400 Jahre kämpft so gar nicht existiert. Und dann gab es noch die Sache mit dem Amulett. Livia fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und verschränkte sie hinter dem Kopf.

Als sie darüber nachdachte, kam ihr ein weiterer Gedanke, der ihr schon viel früher hätte kommen sollen: Calla wusste von all dem, sie wusste, was das Herz war... Aramis wusste, was das Herz war und sie waren einverstanden damit? Sie waren okay, damit, dass Wilhelmina seit 400 Jahren da unten eingesperrt war... aber Wilhelmina schien selbst damit einverstanden zu sein...



Ich fände es spannend zu wissen, was eure Theorien bis jetzt sind: Wer dem Herzbaum schadet (und wieso)? Wer alles die Wahrheit über das Herz kennt? Was wohl als nächstes passieren wird? usw.

Das Herz der HexenWhere stories live. Discover now