9. 400 Jahre Berufserfahrung

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»Minh!« Livia stieß die Tür zu Minhs Zimmer etwas zu schwungvoll auf, aber das war ihr egal.
»Was?«, fragte Minh entgeistert, die fast ihr Smartphone hätte fallen lassen, als die Tür gegen die Wand knallte.
»Ich muss dir etwas zeigen!« Livia stürzte sich auf das Bett und zerrte die Blätter aus der Tasche. Ihre Freundin zog argwöhnisch die Brauen hoch, machte ihr jedoch Platz.
»Was ist so wichtig?«, fragte sie. Ohne zu antworten drückte Livia ihr das erste der vier Blätter in die Hand. Es war die Kopie aus dem Taufregister.

»Ich war im Staatsarchiv wegen einer Vision und habe nach Laertes forschen lassen«, erklärte sie notdürftig.
»Schön, jetzt wissen wir sein exaktes Alter, was bringt uns das? Wir wissen, das er aus dem Mittelalter stammt«, meinte Minh mit einem Blick auf die Aufzeichnung und die Bleistiftnotizen.

»Frühe Neuzeit, das Mittelalter endete im 15. bis 16. Jahrhundert«, verbesserte Livia und hob den Finger, um zu zeigen, dass da noch mehr kam. »Ich habe etwas gemacht, das man sonst als Erstes beim Online-Dating macht und was wir eigentlich auch hätten tun können. Ich habe seinen Namen gegoogelt und es gab Resultate.« Etwas stolz auf sich reichte sie ihr das zweite Blatt. Es war ein Screenshot einer Website, den sie ausgedruckt hatte. »Ich habe herausgefunden, dass er früher Schlosser war und das scheint er immer noch zu sein.« Auf der Seite waren die Angestellten einer Schlosserei aufgelistet, auch ein Bild von Laertes war darauf. Er wirkte eindeutig weniger einschüchternd, mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen und den braunen Locken im Nacken zusammengebunden. Seine Augen sagten nicht mehr 'steh mir im Weg und ich bring dich um', sondern 'und wenn alles zu Ihrer Befriedigung war und Sie Zeit haben, lassen Sie doch eine gute Bewertung da'.

»Der Typ hat 400 Jahre Berufserfahrung? Sein Lebenslauf muss drei Meter lang sein«, murmelte Minh, als sie den Typen genauer betrachtete.
»Ihm gehört die Schlosserei«, verbesserte Livia und tippte auf die Schrift unter seinem Bild. »Aber auf der Website steht, dass sie auch spezialisiert sind auf die Renovierung alter Metallarbeiten, vor allem Schlüssel und Schlösser.«

Minh nahm ihr interessiert das Blatt ab. »Hat Calla nicht gesagt, man wusste oft nicht, wo er sich aufhielt. Meinst du, er lebte die ganze Zeit hier und das nicht einmal versteckt und die haben es nie geschafft, etwas gegen ihn zu unternehmen oder haben sie ihn einfach nie gefunden?«, fragte sie.
Livia zuckte mit den Schultern, »Vielleicht hatte der Zirkel die Hoffnung, er wird irgendwann weniger machtbesessen und frauenfeindlich. Ich habe auch einen Eintrag über seinen Tod gefunden, was etwas seltsam ist.« Sie strich das letzte Blatt glatt. »Bist du bereit für den krönenden Abschluss meines wilden Abenteuers zur Infotheke des Staatsarchivs?«
Minh warf ihr einen warnenden Blick zu, dass sie nicht in Stimmung für ihre Sprüche war und Livia reichte ihr das Blatt. »1623 hat Laertes geheiratet. Kannst du den Namen seiner Frau lesen?«

Minh hielt das Blatt näher an ihr Gesicht, bevor sie wieder zu ihrer Freundin sah. »Steht... steht da Wilhelmina?«
Livia nickte. »Wilhelmina Viret, geboren Manz. Laertes und Mina waren verheiratet für zwei Jahre, bevor sie starb.«
»Vielleicht ist das eine andere Wilhelmina?«, schlug Minh vor und blickte wieder auf das Blatt, als hätte sich der Name in dieser Zeit geändert.
»Möglich, aber wie hoch ist da die Wahrscheinlichkeit, vor allem mit demselben Nachnamen?« Ein triumphierendes Lächeln zierte Livias Lippen. Sie hatten zwar immer noch keine Ahnung wie sie Laertes loswerden konnten oder wann sein nächster Angriff kam aber Livia hatte das Gefühl zumindest etwas über ihn zu haben. Etwas, dass ihnen vielleicht sogar helfen könnte.

Minh sah sie nachdenklich an. »Zu dieser Zeit hat man nicht aus Liebe geheiratet. Sie können sich gehasst haben und trotzdem geheiratet haben. Außerdem hatte man damals als Frau nicht groß Mitspracherecht.«
»Kann sein, aber mich interessierte es, wieso es nicht erwähnt wurde, als Calla uns von Laertes erzählt hat.«
»Vielleicht wissen sie nicht davon, vielleicht ist es eine andere Wilhelmina oder ein anderer Laertes.«
Livia zuckte abermals mit den Schultern. Es war möglich, aber nicht gut genug für sie.

Das Herz der HexenWhere stories live. Discover now