12.

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Genervt ließ Jule sich auf die Steinstufen vor der Haustür fallen. Jaron und Kian sollten schon vor gut einer Stunde hier sein und ihrer Anfänglichen Besorgtheit war längst Langeweile und Stress gewichen.
Gabriele saß im Klimatisierten Wagen und hatte eindeutig den besseren Platz gewählt, doch Jule hatte die Musik nicht mehr ertragen können.
Gedankenverloren spielte sie mit ein paar der Kieselsteine, die den Weg säumten und verbrannte sich prompt die Finger an ihnen, da sie von der Sonne aufgeheizt worden waren. Leise fluchte sie über den Sommer.
"Jule?", rief Gabriele und öffnete die Wagentür:"Es hat keinen Sinn mehr zu warten. Lass uns nach einem Weg ins Haus suchen".
Seufzend stand Jule auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Dann folgte sie Gabriele um das Gebäude herum.
"Willst du n' Fenster einschlagen oder so?", fragte Jule argwöhnisch.
"Nicht wirklich", murmelte Gabriele und ruckelte prüfend an einem Fensterrahmen. "Schau nach ob du ein gekipptes Fenster findest", befahl er Jule, die sich seufzend in Bewegung setzte.
"Als ob jemand so dumm wäre", murmelte Jule verdrossen und massierte sich die Schläfe. Ihre Kopfschmerzen trieben sie schier in den Wahnsinn. "Okay. Jemand ist so dumm", führte sie ihr Selbstgespräch fort, als sie direkt vor einem gekippt Fenster stehen blieb. Wie es aussah, war es ein Badfenster.
"Hab eins!", rief sie laut in die Richtung, in der sie Gabriele zurückgelassen hatte. Während Jule skeptisch das Fenster anstarte war Gabriele Feuer und Flamme.
"Perfekt", murmelte er und versuchte seine Hand durch die schmale Öffnung zu zwängen. Durch seine molligere Statur ein eher hoffnungsloses Unterfangen.
"Was machst du da?", hinterfragte Jule das offensichtliche.
"Ich will das Fenster aufmachen", grummelte Gabriele angestrengt.
"Das macht absolut keinen Sinn", antwortete Jule verwirrt.
"Ach und wieso nicht?", fragte Gabriele genervt.
"Um das Fenster zu öffnen, müsstest du den Griff drehen und das geht nur, wenn das Fenster geschlossen ist", erläuterte Jule. Gabriele schnaubte genervt und zog seinen Arm umständlich aus dem Fenster.
"Und was schlägt Miss Neunmalklug dann vor?", fragte er spöttisch.
"Wir rufen den Schlüsseldienst", sagte sie Achselzuckend. 
"Und der macht dann was?", hakte Gabriele zweifelnd nach.
"Neue Schlösser".
"Die ein Vermögen kosten", beendete Gabriele ihren Satz.
"Ich könnte auch versuchen das Schloss zu knacken", warf Jule nach kurzem überlegen ein.
"Aber erstens ist das Schloss dann wahrscheinlich kaputt und zweitens sind die Dinger nicht so leicht zu knacken wie Spindschlösser", trübte sie Gabrieles Freude im nächsten Satz wieder etwas.
"Probieren geht über Studieren", sagte Gabriele überzeugt.
"Hast du denn eine Büroklammer oder so?", fragte Jule.
"Nicht dass ich wüsste", meinte Gabriele und legte die Stirn in Falten. "Aber vielleicht bei den Fahrzeug Papieren".
Jule folgte Gabriele zum Wagen und wartete geduldig, bis er die Papiere hervorgezogen hatte.
"Na also", meinte er triumphierend, als er eine Büroklammer fand, die zwei Zettel zusammen hielt. Jule nahm ihm den kleinen Draht aus der Hand und bog ihn sich zurecht. Dann nahm sie die Tür in Angriff.
"Für gewöhnlich sind da mehrere Schließ Mechanismen drin", meinte sie und begann mit der Prozedur des Schlossknackens.
Als erstes schob sie den Draht so weit es ging in das Schloss hinein und drückte alle Schließmeschanismen nach unten, während sie die Klammer langsam aus dem Schloss zog. Das Schloss klickte fünf mal und verriet Jule damit, das es genau fünf Schließmechanißmen gab.
"Hast du noch so eine?", fragte sie Gabriele, der sie gespannt beobachtete.
"Glaub nicht, nein".
"Irgendeinen anderen Draht?", fragte Jule hoffnungsvoll. Gabriele legte kurz die Stirn in Falten, bevor sich sein Ausdruck merklich erhellte.
"Hinten hab ich für die Pflanzen noch einen Draht, warte", meinte er und lief zum Wagen. Triumphierend wedelte er mit einer Rolle Draht und kam zu ihr zurück.
"Perfekt", murmelte Jule und bog das Anfangstück um 90°. Sie nutzte den Dickeren Draht als Spannwerkzeug und setzte es unten im Schloss ein, dann nahm sie sich wieder die Büroklammer zur Hand und drückte jeden Wiederstand, den sie im Schloss spürte, nach unten. Jedes Mal drehte sich das Schloss ein Stück weiter im Uhrzeigersinn. Als alle fünf Schließelemente gelöst waren, drehte Jule das Schloss bis es auf dem Kopf stand.
Jule zog beide Drähte hinaus und bog sich die Büroklammer dann wieder gerade, um sie einmal durch das Schloss zu ziehen. Prompt drehte sich der Kern weiter und Jule drückte die Türklinke hinunter.
"Et voilà", triumphierte Jule, als die Tür sich ohne Probleme öffnete. "Und das Schloss ist auch noch benutzbar", sagte sie Stolz.
"Krass", staunte Gabriele und nahm dann seinen Gartendraht aus Jules Hand.
"Den brauch ich noch", meinte er und verstaute ihn wieder im Kofferraum.
Währenddessen war Jule im Haus auf der Toilette verschwunden.

Stöhnend rieb Kian sich den Kopf.
"Er ist aufgewacht!", rief jemand. Hämmernde Kopfschmerzen setzten ein und Kian schloss benommen wieder die Augen. Das Licht war zu hell, sein Kopf dröhnte und seine Zunge fühlte sich an wie Sandpapier.
"Hab dich nicht so", meinte jemand ruppig, doch Kian erkannte erst, dass er gemeint war, als er eine Ohrfeige bekam. Heute schien er die einfach magisch anzuziehen.
Notgedrungen öffnete er die Augen und wollte sie am liebsten gleich wieder schließen. Eine Lampe schien ihm genau ins Gesicht und verhinderte, dass er jemanden in dem sonst dunklen Raum erkannte.
Er saß auf einem Stuhl und seine Beine waren an die Stuhlbeine gebunden. Sein Shirt und seine Schuhe, inklusive der Socken, schienen auf Abwege gekommen zu sein. Er war froh, dass wenigstens seine Hose noch an ihrem alten Platz saß.
"Du weißt warum du hier bist?", fragte die gleiche Stimme wie am Anfang. Kian schüttelte den Kopf und bereute es im nächsten Moment wieder. Sein Kopf pochte mit seinem Herzschlag um die Wette.
"Deine Mutter hat für uns sehr wichtige Ergebnisse gemacht und ist dann einfach verschwunden", erklärte eine andere Stimme mit starkem Akzent.
'Was für Ergebnisse?', wollte Kian fragen, doch sein Mund war wie ausgetrocknet und so brachte er nur ein krächzen zustande.
"Bringt ihm Wasser", befahl jemand und wenig später lief ein dunkelhäutiger Mann zu ihm. Kian kam nicht umhin, ihn mit Sklaverei in Verbindung zu bringen. Er versuchte es erst gar nicht mit einem Danke, sondern nickte vorsichtig, was sein Gönner mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm.
Gierig trank Kian und leerte die kleine Wasserflasche in einem Zug. Da der Mann wieder in den Schatten getreten war, ließ er das Plastik einfach auf den Boden fallen.
"Was für Ergebnisse?", fragte Kian dann.
"Das weist du nicht?", fragte jemand spöttisch und Kian verneinte.
"Jaja, deine Mutter wollte immer allen helfen. Also hat sie eine Therapie gegen Krebs endwickelt. Dabei wird ein kleiner Chip eingesetzt, der die Krebszellen zerstört und sogar verhindert, dass sie sich bilden. Erstaunlich, nicht wahr?", die Person, die Kian als Mann vermutete, wartete nicht auf seine Antwort. "Als wir dann unser Interesse an ihrer Forschung gezeigt haben, war sie begeistert, immerhin hätten wir die Chips weiterentwickelt und kostenfrei auf der ganzen Welt implantieren lassen. Aber kurz bevor sie uns ihre Ergebnisse übergeben sollte, hat sie einen Rückzieher gemacht. Vermutlich ist die Arme erpresst worden. Als wir von ihrem Tod hörten, waren wir zutiefst bestürzt!"
"Obwohl sie der Auslöser für ihren Tod waren, Herr Vagin?", schoss Kian ins Blaue.
"Oh nein, nein, nein, Kian", sagte Vagin bestürzt und trat zu ihm ins Licht:" denk doch sowas nicht!" Vagin packte sein Kinn und zwang Kian ihn anzusehen. Mit aller Kraft wollte Kian ihn von sich stoßen, doch Vagin hatte die Bewegung bemerkt und war rechtzeitig zurück gewichen.
"Bindet ihn fest!", befahl er und der Mann, der ihm das Wasser gebracht hatte, huschte hinter ihn, um seine Hände an den Stuhl zu binden. Kian ließ es zu ohne sich zu währen.
"Was wollen sie von mir?", fragte er den Professor.
"Später mein lieber", säuselte er und hob im gehen die Hand zum Gruß.
"Tut mir leid", flüsterte der Mann hinter Kian da und er war kurz abgelenkt.
"Hey! Wie heißt du?", rief er ihm hinterher als der junge Mann hinter Vagin her huschte. Überrascht drehte er sich nochmals um, lächelte aber dann.
"Taio".
"Kian", stellte er sich unnötigerweise vor.
"Es war schön, dich kennenzulernen, Kian", sagte Taio in gebrochenem Deutsch.
"Ebenfalls schön, deine Bekanntschaft zu machen, Taio", erwiderte Kian und beide lächelten sich für einen Moment an.
Ein Schuss gelte. Taio schaute überrascht auf den sich ausbreitenden Blutfleck. Im nächsten Moment ging das Licht aus.

Schweigend saßen Jule und Gabriele sich gegenüber. Das Warten, ohne zu wissen, wo Kian war, machte Jule schier verrückt. Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Wasser.
Ein brummen riss beide aus ihren Gedanken und Gabriele zog schnell sein Handy hervor. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, doch Gabriele entsperrte das Gerät schnell. Als er die Nachricht sah erstarrte er.
"Gabriele?", fragte Jule, auf die unnatürliche Blässe in seinem Gesicht aufmerksam geworden. Sie bekam keine Antwort.
"Was ist los?", versuchte Jule es erneut, doch Gabriele reagierte nicht.
"Gabriele!", fuhr sie ich an. Wie in Trance schaute er sie nun doch an und drehte das Handy zu ihr.
Jule keuchte und ließ sich in ihrem Stuhl zurück fallen.
Auf dem kleinen Display war ein Foto von Kian. Er saß angebunden auf einem Stuhl.
Um ihn herum breitete sich eine Blutlache aus.

Unexpectedحيث تعيش القصص. اكتشف الآن