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Nein. Es war nicht frei, das erkannte das Mädchen schnell. Denn als das Mädchen abends in ihrem Bett, in dem graugetünchten Zimmer, mit den dunkelgrauen, lichtundurchlässigen Vorhängen, zwischen den ganzen anderen grauen Kindern im Kinderheim lag, stellte es fest, dass es nicht hierhergehörte.

Es war so lange in Schwarzland gewesen, dass viele der Regeln und Anforderungen, die an das Leben in Graustadt gebunden waren, ihr unnütz und unlogisch erschienen. Das Korsett, in das es eingeschnürt werden sollte, saß bereits jetzt zu eng. Denn die Erlebnisse in Schwarzland waren zu tief in ihr Gedächtnis gebrannt, um den Menschen um sich herum so zu vertrauen, dass es die Sinnhaftigkeit der Zwänge anerkennen konnte.

Es war immerhin jahrelang dort eingesperrt gewesen, völlig auf sich gestellt. Das Mädchen war ins Bett gegangen, wann es wollte, und genauso aufgestanden. Es hatte gegessen, worauf es hungrig war und nicht was ihr vorgesetzt wurde. Doch jetzt musste es sich dem System in Graustadt unterordnen.

Dann fiel es aber noch mehr aus der Rolle, als es das aufgrund seiner Aufmachung ohnehin tat. Sie hatten ihr graue Sachen gegeben und es hatte sie angezogen mit dem Erfolg, dass es sich verkleidet fühlte. Es gehörte nicht hierher, das war ihr in diesem Moment nochmal aufgefallen. Doch zurück wollte es nicht und es wusste auch nicht, wohin es sonst konnte.

"Es wird besser, wenn du dich eingelebt hast", entschied der Kern in ihr, der weiter leuchtete und das Mädchen zuckte mit den Schultern, ehe es die Augen schloss, sich die Decke übers Kinn zog und ihrer Erschöpfung nachgab.

Doch es wurde nicht besser, eher schlimmer. Jeden Tag merkte das Mädchen ein bisschen mehr, wie wenig es in Graustadt passte. Jede Stunde mehr fühlte es sich unvollkommener dadurch. Es bewegte sich durch die Stadt, in dem engen Rahmen, der ihr gesetzt wurde und überall fiel es auf. Es wollte doch nur dazugehören, aber das Mädchen war einfach falsch für diese Stadt, daran war nicht viel zu rütteln.

Es wurde wieder traurig, die Euphorie war verflogen und das Mädchen fragte sich, ob es jemals irgendwohin gehören konnte, nach allem, was es in Schwarzland erlebt hatte. Manchmal träumte es davon, was vor ihrem Leben in Graustadt war. Aber sprechen konnte es nie darüber, aus Angst, es wäre eine zu große Bürde. Die Furcht, dass sie es zurückschicken konnten, war stets da und nahm immer weiter zu.

Also schwieg es beharrlich, wenn es schweißgebadet aufwachte und sie die besorgten und verwirrten Blicke der anderen trafen. Manchmal wartete es dann, bis alle wieder schliefen und schlich sich nach draußen. Dann lief es in den nahegelegenen Park, wo es sich ins Silberlicht des fahlgrauen Mondes setzte und in den anthrazitfarbenen Himmel schaute.

Immer öfter suchte sie die Erinnerung an das heim, was vor Schwarzland gewesen war. Was dafür gesorgt hatte, dass sich das Firmament nach und nach verdunkelt hatte und es gedacht hatte, sie könne ihm entkommen. Auch das erzählte sie niemandem. Es lastete so schwer auf ihr und je öfter es darüber nachdachte, umso mehr kam das Mädchen zu der Erkenntnis, dass es diese Begebenheit war, die bewirkte, dass es nie wieder irgendwohin gehören konnte.

Manchmal flüsterte es der fahlgrauen Scheibe zu, was ihr auf die Brust drückte, weshalb es so schlecht atmen konnte. Doch der Mond konnte nicht antworten und so blieben es nur Tatsachen, die immer weiter in ihr schwarzes Inneres drangen und sich dort festfraßen. Selbst der bunte Kern schien nicht mehr so zu leuchten, wie es noch Wochen zuvor gewesen war.

Doch eines Tages kam eine der Erwachsenen zu ihr und erklärte dem Mädchen, dass sie es für eine längere Reise angemeldet hätte. Es wäre wunderschön dort und dort könne jeder so sein, wie er war. Das Mädchen tat diese Info betont gleichmütig mit einem Schulterzucken ab. Schließlich hatte es sich damit abgefunden zu anders zu sein, um so angenommen zu werden, wie es war - mit all der Dunkelheit in sich.

Mit der selben Gleichmütigkeit stieg es in den Bus und beobachtete die anderen Graustadtkinder, die so aufgeregt waren. Wieder wurde ihr bewusst, dass es schlicht nie wieder so unbefangen sein konnte, wie die anderen, die nie durch diese dunklen Welten gewandert waren oder dort gelebt hatten.

Doch als der Bus hielt und es ihn verließ, stutzte es. Hier war es nicht grau. Wo war es hier?

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt