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Lil starrte ins Lagerfeuer und schloss die Augen, während die aufgeregten und fröhlichen Stimmen der Ferienkinder zu ihr drangen, die in der Dämmerung ihr Stockbrot und ihre Folienkartoffeln zusammen mit den Würsten am Stock zubereiteten. Wie immer fluteten sie dabei widersprüchliche Gefühle, denn dieser Abend war immer der letzte, den sie den Kindern schenken konnte, bevor sie wieder zurückfuhren in ihren Alltag.

Wie immer hoffte sie, dass sie sich das Selbstvertrauen bewahren konnten, wenn sie wieder in ihre Leben eintauchten, das sie sich bei ihr erarbeitet hatten. Diesmal fiel es ihr aber noch schwerer, zu wissen, dass morgen Abfahrt war. Denn das hieß auch, der kleine Junge würde zurückkehren, der sich auf ihrem Schoß an ihre Brust kuschelte. Automatisch lehnte sie ihren Kopf an Finnies und spürte, wie seine Locken sie an der Wange kitzelten.

Seit dem Tag seiner Ankunft und der Episode im Bad, bei der sie ihn wirklich hatte säubern und seine Wunden versorgen dürfen, war er ihr nicht mehr von der Seite gewichen. In jeder wachen Minute war er bei ihr gewesen und seine interessierten, ernsten Augen hatten jede ihrer Bewegungen unter die Lupe genommen. Doch von Tag zu Tag hatte sie bemerkt, wie er öfter gelächelt hatte. Sie durfte ihn jetzt anfassen, ohne dass er sich verkrampfte. Zu ihrem Leidwesen war sie richtig verknallt in ihn.

Schon beim Gedanken, dass er wieder zu seinem Vater musste, krampfte sich ihre Brust so eng zusammen, dass sie kaum mehr fähig war, Luft zu holen. Viele Hintergrundinformationen hatte sie am Abend über ihn auch nicht bekommen. Nur, dass sein Vater immer wieder wegen seines Alkoholgenusses auffiel und Finn wohl vernachlässigte, weshalb der Junge diesmal wieder mitgenommen wurde. Doch vor Gericht beteuerte der Vater jedes Mal, er würde seinen Sohn lieben und sein Verhalten ändern. Er habe den Tod seiner Frau noch nicht verarbeitet, die kurz nach Finns Geburt verstorben war.

Sie hatte die Ahnung, dass das nicht das Einzige war, was bei Finnie im Argen lag, doch dafür gab es keine Beweise, wenn man mal von seinem Verhalten Männern gegenüber absah. Jerome und Sascha meinten, er wäre noch zu jung, um zwischen ihnen und seinem Vater zu unterscheiden. Da von seinem Erziehungsberechtigten Schlechtes ausgehe, übertrage er das. Sie bezweifelte, dass das der einzige Grund für die Vorbehalte von Finn war. Doch als sie das äußerte, hatte Sascha sie lang angesehen und gemeint, das sei eine schwerwiegende Anschuldigung, die sie nicht einfach so unbedacht äußern dürfe.

Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie ständig darüber brütete. Erneut wurde sie von heißem Zorn und tiefer Betroffenheit geflutet, als ihr Kopfkino ansprang. Während sie sich zwang, ihren Atem wieder zu beruhigen, strich sie sich über die Stirn und bemerkte, wie Finn sie musterte. Sofort lächelte sie ihn an, er sollte nichts erhaschen, was ihm vielleicht Sorgen bereitete.

„Ich glaube, unsere Ofen-Kartoffel ist fertig, Äffchen. Und dein Würstchen. Sollen wir mal gucken gehen?", murmelte sie und fing sein Nicken auf, ehe er bedächtig von ihrem Schoß rutschte und sie auffordernd ansah.

Sofort wurde ihr Lächeln warm. Er sprach weiterhin kaum, aber er sagte so viel, wenn man aufpasste. Sie griff nach seiner Hand und ging mit ihm zusammen ans Feuer, um ein Würstchen für Finn abzugreifen und sich selbst eine Kartoffel aus dem Feuer zu fischen. Dabei ließ sie zu, dass sie die Atmosphäre in sich aufsaugte, die geschwängert war von den anderen fröhlichen Kindern, die schon gespannt auf ihre Tipi-Nacht waren. Sie fing Jeromes Blick auf, der zwischen ihr und Finn hin und her wanderte. Dann schlich sich ein wissendes Lächeln auf sein Gesicht und sie zuckte automatisch mit den Schultern.

Ein kurzes Nicken war die Antwort. Sie wusste, sie sollte Finn nicht anders sehen als die anderen Kinder, doch es war einfach so. Er hatte ihr Herz Stück für Stück erobert, nachdem es ihm zugeflogen war und sie es ihm hatte entziehen wollen. Doch sie war wehrlos gewesen. Plötzlich sehnte sie sich danach, auf eines ihrer Pferde zu steigen und zu ihrer Lichtung zu galoppieren. Sie musste einfach den Kopf frei bekommen. Denn schon jetzt merkte sie, wie der Schmerz von einer Sekunde zur nächsten stärker in ihr wütete.

Sonst war sie besser damit klargekommen, dass sie das Leben der Kinder hier nur touchierte und sich erhoffte, sie würden sich ihr Leben lang an ihre Zeit bei ihr erinnern. Bei Finn würde es wehtun, tat es jetzt schon. Mit zittrigen Händen schnitt sie ihm stattdessen sein Würstchen und strich ihm durch die Locken, als er sie angrinste deswegen und herzhaft zugriff. Sie selbst starrte jedoch auf die Kartoffel, auf die sie sich Sour-cream geträufelt hatte und musste sich überwinden zu essen.

Das letzte Mal war ihr so schwer ums Herz gewesen, als Alexa gegangen und sie sich von den psychischen Folgen ihres Unfalls erholt hatte, erinnerte sie sich und schob die einfallenden Erinnerungen von sich. Es war eine schöne laue Nacht und die konnte sie nochmal mit dem Kind verbringen, das ihr Herz im Sturm erobert hatte. Das sie mit seinen traurigen Augen und den blonden Locken an ihre Jugendliebe Jan erinnerte. Über den war sie auch hinweggekommen, sagte sie sich und griff, nachdem sie ihren halbaufgegessenen Teller zur Seite gestellt hatte, zu ihrer Gitarre.

Gleich würde sie mit den Kindern Lagerfeuerlieder singen, nahm sie sich vor. Doch zuerst musste sie loswerden, was sie marterte und was sie gerne zu dem kleinen Jungen sagen würde, der sie mit strahlenden Augen ansah, während sie die Akkorde zu Charly Puths Song anstimmte und mit kräftiger Stimme sang:

„I′m only one call away,
I'll be there to save the day,
Superman got nothing on me,
I′m only one call away.
Call me, baby, if you need a friend,
I just wanna give you love,
C'mon, c'mon, c′mon.
Reaching out to you,
so take a chance..."

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now