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„I got a long way to go and a long memory
I been searching for an answer,
always just out of reach
Blood on the floor, sirens repeat
I been searching for the courage to
face my enemies.
When they turn down the lights..."

Sie schloss die Augen, während der Songtext in ihr Innerstes sickerte und sie am ganzen Körper zitterte. Das war ihr Song, mit dem sie sich beruhigte, der sie daran erinnerte, wie viel sie schon bewältigt hatte und wie stark sie war. Er gab ihr die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen und alles andere an ihr abprallen zu lassen. Egal, wie schwer es war.

Sie konnte schon lange nicht mehr die Schönheit der Welt sehen, in der sie sich bewegte, dachte sie, während sie die Augenlider wieder öffnete, weil der Wagen ruckelnd zum Stehen kam. Mit holzigen Bewegungen schob sie sich zur Tür im Heck des Autos und stieg aus, während sie vernahm:

„I hear my battle symphony,
all the world in front of me.
If my armor breaks,
I′ll fuse it back together.
Battle symphony, please,
just don't give up on me.
And my eyes are wide awake
for my battle symphony.
For my battle symphony..."

Es hatte sie wahnsinnig viel Überwindung gekostet, ihre Wohnung zu verlassen, sich der Außenwelt zu stellen. Doch das hier war wichtig, sagte sie sich und versuchte sich zu erinnern, welche Richtung sie einschlagen musste. Sie war früher so anders gewesen: Immer unterwegs, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, immer fröhlich und mit wachen Augen war sie ihrer Umwelt und den Menschen darin begegnet.

Jetzt bekam sie Schweißausbrüche, wenn sie nur daran dachte, die Wohnung zu verlassen. Menschen begegnete sie hauptsächlich im Internet, doch auch da hielt sie sich größtenteils bedeckt, was ihre Person anbelangte. Oft lachten die wenigen, die geblieben war, dass sie es mit ihren Vorsichtsmaßnahmen locker mit einer Regierungseinrichtung der höchsten Geheimstufe mithalten konnte. Aber es ging nicht anders. Sie wusste, wie irrational es war, dass jeder Schritt aus ihrer Höhle sie in Angst und Schrecken versetzte. Nicht jeder Mensch war schlecht. Die meisten waren ganz ok, wie sie sich noch erinnern konnte und doch hatte es ihr heute schon fast alles abverlangt, die Wohnungstür von außen zu schließen und nicht wieder hinein zu stürmen.

„They say that I don′t belong,
say that I should retreat.
That I'm marching to the
rhythm of a lonesome defeat.
But the sound of your
voice puts the pain in reverse.
No surrender, no illusions
and for better or worse.
When they turn down the lights..."

Kaum einer ihrer alten Freunde hatte verstanden, wie sie sich verändert hatte nach dem ... Vorfall. Doch da war etwas in ihr kaputt gegangen. Sie hatte es gespürt, als sie in die Augen des anderen gesehen und gewusst hatte, sie würde nie wieder die Gleiche sein, wenn sie das überlebte. Sie hatte gespürt, wie sie in abermillionen von Splittern zerborsten war. Sie hatte es geschafft, doch der Gedanke, dass sie niemandem trauen durfte, weil die Welt wirklich durch und durch schlecht war, der war geblieben.

Natürlich waren die Menschen in ihrem Umfeld geschockt gewesen, was sie durchlitten hatte, dachte sie und versuchte weiterhin, den Atem gleichmäßig in ihre Lunge strömen zu lassen. Sie hielt ihn die ganze Zeit unwillkürlich an, doch das verschärfte die Beklemmung in ihrer Brust nur noch. Erhöhte den Druck. Den sollte sie loslassen, das wusste sie. Doch mit jedem Schritt zu ihrem Ziel wurde das Gefühl undurchdringlicher, dass sie der Welt schutzlos ausgeliefert war. Den Irren, die sich darin verbargen.

Sie war lange im Koma gelegen, hatte eine schwere Kopfverletzung davon getragen sowie einige Knochenbrüche. Die waren alle verheilt. Doch ihre Psyche war weiterhin verletzt und sie versuchte immer noch, sich von dem Grauen zu befreien, das sie ereilt hatte. Im Grunde hatte sie noch Glück gehabt - wenn man von der Tatsache absah, dass sie sich manchmal wünschte, sie hätte es nicht überlebt, damit sie sich nicht täglich mit ihrer zersprungenen Psyche auseinandersetzen müsste.

100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now