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Seine Schultern bebten genauso wie der Rest von ihm, während er mit einer Mischung aus purem Schmerz und Ungläubigkeit auf die Grube hinuntersah, in die vor wenigen Minuten der Sarg seiner großen Liebe versenkt worden war. Wiederholt wischte er sich über die feuchten Wangen, während er weiterhin versuchte, zu begreifen, dass sie nie wieder ihren Blick auf ihn richten würde und er nie wieder ihre Hand würde halten können.

Sie war immer eiskalt, zumindest in den letzten Monaten, in denen sie an ein Krankenbett gefesselt gewesen war, obwohl über ihrem Körper schon mehrere Decken ausgebreitet waren, erinnerte er sich und wieder zog sich seine Brust noch ein Stück mehr zusammen. Er spürte, wie ein Kumpel ihm die Hand auf die Schulter legte und hörte, wie dieser eine Verabschiedung murmelte und ihm nochmals sein Beileid aussprach.

Er nickte nur und aufs Neue bäumte sich in seinem Innersten alles gegen den Gedanken auf, dass dieses blumenbedeckte, hölzerne Ding inmitten der ausgehobenen Erdschichten nun die Ruhestätte seiner Sarah sein sollte. Sie gehörte da nicht hin, dazu war sie zu jung. Alles in ihm sträubte sich gegen das Wissen, dass es nur eine Frage der Zeit und das Ergebnis das Gleiche gewesen wäre, hätten sie noch einen Monat oder zwei mehr gehabt. Sie hatte hart gekämpft, um ihnen Zeit zu schenken, das wusste er doch.

Aber es milderte den Schmerz nicht, der in seinem gesamten Körper brannte, die Muskeln lähmte und jeden Atemzug fast zur unlösbaren Aufgabe werden ließ. Er liebte sie so sehr und er würde alles geben, um noch einmal ihre Stimme zu hören. Egal, ob sie sich vor Freude überschlug, weil sie irgendwas Verrücktes zu seinem Geburtstag geplant hatte oder ob sie zittrig und leise aus ihrem Mund drang, wie es am Ende oft der Fall gewesen war. Aber das war nur noch in seiner Erinnerung möglich, sagte er sich und wieder brach ein Schluchzen über seine Lippen, während sich neue Tränenfluten in seinen Augen sammelten.

‚Das Leben geht weiter', versuchte er sich einzureden, aber er wusste, dass er dazu noch nicht bereit war.

Trotzdem flüsterte er nochmals, wie er sie liebte und riss sich mühsam von seinem Platz vor der Grabstätte seiner Ehefrau los. Wie von weiter Ferne nahm er wahr, dass es gespenstisch still auf dem Friedhof war, durch dessen Reihen er sich nun bewegte. Wie Wachsoldaten ragten die Grabsteine zu seinen Seiten aus der Erde und waren stumm das Zeugnis über die Verluste der Hinterbliebenen, zu denen er nun schon wieder gehörte. Er hatte doch schon seine Eltern vor knapp vier Jahren begraben, nachdem sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren.

Und jetzt ruhte Sarah auch zwischen all den fremden Verstorbenen. Die einzige Konstante, die ihm in seinem bisher 24 Jahre langen Leben geblieben war. Sie hatten ihr Baby geopfert, damit seine Frau Chancen auf Heilung durch die aggressive Chemo gehabt hatte, doch auch das hatte nicht mehr gereicht. Auch der winzige Punkt auf dem verwaschenen schwarz-weißen Ultraschallbild gehörte der Vergangenheit an.

Automatisch zog er seinen Wollmantel enger um seine große Gestalt, um sich gegen den Nieselschnee an diesem Februarmittagshoch zu schützen und die Kälte davon abzuhalten, noch tiefer in ihn zu dringen, doch natürlich half es nichts. Seit Sarahs Abschieds-Nachricht, die nach dem Bewerbungsgespräch auf dem Display seines Handys geleuchtet hatte, half nichts gegen dieses Eiswasser, das durch seine Adern zu laufen schien.

Seine Gedanken wanderten automatisch zu dem Moment, als er die Tür seines Elternhauses aufgeschlossen und in Sarahs Zimmer stürzte, nachdem er nach Hause gerast war. Doch da hatte sie schon mit wachsweißer Haut und einem leichten, entspannten Lächeln in ihrem Bett gelegen. Sie hatten darüber gesprochen, dass sie zusammen entscheiden würden, wann sie ging, da die Chance auf Heilung ausgeschlossen worden war. Doch sie hatte selbst entschieden, während er einem Personalchef Rede und Antwort gestanden hatte.

Automatisch wallte Zorn in ihm auf und er schob ihn hastig zur Seite. Er wollte nicht böse auf sie sein, sondern anerkennen, dass sie so hart um jeden einzelnen Tag gekämpft hatte. Heute war die Zusage für den Job gekommen und er hatte sie in einem Anfall von Tobsucht in tausend Fetzen zerrissen. Wäre er nicht bei diesem Gespräch gewesen, wäre sie noch hier, hätten sie noch ein paar gestohlene Tage. Jeden einzelnen hätte er gebraucht, um sich damit abzufinden, dass das Leben einfach ein Arschloch war.

Er hatte an seiner Zukunft gebastelt, während Sarah ihren letzten Atemzug gemacht hatte. Bei dem Gedanken schnappte er automatisch nach Luft, weil sich der Kloß in seinem Hals erneut verdickte und wieder ein Zittern durch ihn lief.

„Halt! Is' rot!", schrie jemand und sein Blick zuckte zur Seite, wo ein Kerl ihn verstört ansah.

Kurz darauf nahm er die Luftbewegung und das Motorengeräusch eines vorbeirauschenden Wagens wahr. Fuck, das war knapp, schoss ihm durch den Kopf und murmelte ein Dankeschön, während kurz der Gedanke vorbeiflog, ob das wirklich ernstgemeint war. Immerhin wäre er dann nicht weiter allein, sondern wieder bei Sarah. Doch sofort regte sich Widerwille in ihm und er konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag.

Scheiße, so weit hatten ihn seine Füße automatisch getragen? Er war fast schon zuhause! Gleich würde er in die Siedlung mit den kleinen Einfamilien-, Reihen- und Kettenhäusern einbiegen und dann war es nicht mehr weit. Sein Blick blieb an dem Dönerladen hängen, von dem er oft mal ein Abendessen mitgebracht hatte, wenn er unterwegs gewesen war. Die Ampel sprang auf Grün und wieder fingen seine Füße an, einen Schritt nach dem nächsten zu setzen.

Als er an der kleinen Bäckerei vorbeikam, stockten sie automatisch und er starrte durch das Schaufenster, während sein Gedächtnis den Moment hervorkramte, in dem Sarah ihm ihre Cola über seinen Schoß gekippt hatte, nachdem er ihr gestanden hatte, er hätte sich in sie verliebt. Reflexartig zauberte diese Szene ein Lächeln auf sein Gesicht, das immer schiefer wurde, je mehr die Realität wieder in sein Bewusstsein sickerte. Kurz schloss er die Augen und atmete tief ein und aus, während sein Atem vor seinem Mund kristallisierte und zu feuchtem Nebel wurde. Sarah hatte den Winter geliebt.

‚Nein, sie hat das Leben geliebt', verbesserte er sich automatisch und lief weiter.

Je näher er seinem Elternhaus kam, umso mehr verkrampfte sich alles in ihm. Einerseits wollte er sich zwischen den Fotos, mit Sarahs Lieblingsdecke aufwärmen und andererseits wusste er, dass die Stille im Haus ihn die Wände hochgehen lassen würde. Doch heute wurden noch das Krankenbett und die restlichen Utensilien abgeholt, die er in den letzten Monaten für ihre Pflege gebraucht hatte. Er hatte so viel wie möglich selbst gemacht. Nur die medizinischen Dinge hatte er in fremde Hände gegeben. Jetzt war da so viel Zeit über, die er für Sarahs Pflege und sein Studium gebraucht hatte.

Er wusste nicht, womit er die füllen sollte. Er musste einen Job finden. Aber das schien ihm gerade alles so unnütz. Mit steifen Fingern schob er den Schlüssel in die rote Haustür, auf die Sarah bestanden hatte, als er sein Elternhaus sanierte. Die Sanierung hatte ihm damals geholfen, wieder klarzukommen, nachdem sie verstorben waren, aber jetzt wusste er nicht, was zu tun war.

Damals hatte er sich auf Sarah konzentriert und darauf, ihnen ein Heim zu bauen. Jetzt war da ein großes Nichts. Sein Blick fiel auf seinen Ringfinger, als er den Schlüssel drehen wollte. Sofort fing er wieder zu heulen an, während der Schmerz ihn unter einer neuen Woge erstickte. Er würde das schaffen, hallte irgendwo in seinem Kopf und er nickte automatisch. Doch wie, das wusste er nicht. 

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now