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„Jetzt komm schon, Pari, beweg deinen Hintern, ich will hier nicht festfrieren!", ermahnte Iara sie und sie nickte automatisch.

Sie hatte im Grunde gar keine Lust auf diesen Clubbesuch. Wenn ihre beste Freundin Iara nicht schon seit Tagen gezetert hätte, sie solle ihren Arsch aus der weiten Joggpants schieben und das Nest aus Haaren entwirren, wäre sie auch heute Abend zuhause geblieben. Hätte sich mit einer Riesenpackung Eis in ihrem WG-Zimmer vergraben und würde sich in ihrem Selbstmitleid suhlen.

Aber die Alternative - Iara zu verärgern - war noch schlimmer als der bevorstehende Abend. Also hatte sie sich in das mintfarbene Minikleid geschmissen, das ihre weibliche Figur und ihren Teint positiv zur Geltung brachte, und hatte sich die Haare zu weichen Wellen gelockt. Ihre etwas fahle, ungesund wirkende Haut hatte sie mit der passenden Kosmetik aufgepäppelt, sodass niemandem auffallen würde, wie sehr sie gerade in ihrem Gedankenstrudel gefangen war.

Sie wusste weiterhin nicht, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte, und zudem hatte sie noch den verloren, der ihr zu einem der wichtigsten Anker in ihrem Sog geworden war. Wieso hatte er sich nur in sie verlieben müssen?! Es war doch von Anfang an klar gewesen, dass sie lediglich eine Affäre haben würden! Nur Sex und Spaß, aber nichts Ernstes! Was war das nur für eine Scheiße?

Sie merkte, wie ihr gezwungenes Lächeln immer schiefer wurde, und sah in Iaras Gesicht. Das signalisierte ihr einerseits, dass ihre Freundin mit ihr litt, kommunizierte jedoch auch, dass Iara von Anfang an gewusst hatte, dass es miserabel enden würde. Sie war ihr dankbar, dass sie es nicht noch aussprach. So konnte sie so tun, als würde sie es nicht bemerken.

Sie hatte schon mehrfach versucht, Iara über Dag auszuhorchen, immerhin war sie Angestellte bei einer Künstleragentur und kannte daher Vince und Dag aus der Szene, wo sie ihnen auch immer wieder begegnete. Aber sie hatte nur immer bitterböse Blicke geerntet, ehe sie weicher geworden waren. Also stalkte sie Dag wieder auf sämtlichen Social Media Kanälen, die ihr eingefallen waren, wie damals, bevor sie sich nähergekommen waren, jedoch schon diese wahnsinnige Anziehungskraft zwischen ihnen bestanden hatte.

Iara legte den Kopf schief und raunzte sie wieder an, ob sie jetzt endlich kommen würde und sie unterdrückte das Seufzen, ehe sie die Treppen zum Club hoch stöckelte. Sie lächelte nochmal ihr Fakegrinsen, als der Security sie begrüßte und folgte ihrer besten Freundin an die Garderobe. Sie ließ ihre Jacke auf den Tresen gleiten und nahm den Abholzettel entgegen, den sie sofort in der kleinen Clutch verstaute, ehe sie sich zu Iara umdrehte.

Die wirkte so, als könne sie es kaum mehr abwarten, die Mainstage zu entern, von der schon wummernde Beats zu ihnen drangen. Was gäbe sie jetzt für ihren heimeligen Pyjama und einem Film, den sie unter ihre Decke gekuschelt ansah? Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach umzudrehen und sich wieder zu verkriechen, doch dann sah sie Iaras leuchtende Augen.

„Es ist schon so lange her, seit wir zusammen feiern waren! Mika und Kitty kommen auch noch!", schrie sie Pari ins Ohr und sie reckte den Daumen hoch.

Offenbar war sie nicht besonders überzeugend, denn Iara schaute sie wieder mit diesem bestimmten Blick an, bei dem ihr ganz anders wurde und stemmte die Hände in die Hüften. Was das Gefühl nicht milderte, wie ein süßes Lämmchen auf die Schlachtbank geführt zu werden. Aber Herumjammern half bei ihrer Freundin wenig, dafür hatte sie keine Geduld. Also ließ sie zu, dass Iara ihr Handgelenk umfasste und sie nach drinnen zog.

Sie atmete noch einmal tief durch und folgte Iara dann, während sie ihre übliche Runde durch den Club drehte. Es war bereits brechend voll hier und eigentlich war ihr nicht nach Menschen, eher nach irgendwas Süßem, das seine tröstende Wirkung entfaltete. Sie wollte nur einen Menschen in ihrer Nähe wissen. Den sie ums Verrecken nicht vergessen konnte. Sie seufzte nun doch und nickte euphorischer, als sie war, als Iara ihr andeutete, sie würden erst mal die Tanzfläche stürmen. Vielleicht tat ihr die Bewegung gut. Sonst würde sie ohnehin nur an der Bar versacken.

Das Grinsen, das sie Iara nun schenkte, war echt, denn sie konnte nicht anders, als sich über deren Freude über den Abend zu amüsieren. Sie machten das wirklich nur noch selten. Also konnte sie genauso gut das Beste herausholen, sprach sie sich selbst Mut zu und ließ sich von der Musik einfangen, die aus den riesigen Boxen drang. Sie hob die Hände in die Höhe, als die Beats sie gefangen nahmen und sie sich ganz dem Song überließ. Da es auch auf der Tanzfläche ziemlich eng war, war nicht der Platz, große Schritte zu machen, doch das war ohnehin nicht ihr Stil.

Sie spürte, wie unverhofft etwas Anspannung von ihr abfiel und tauchte zunehmend tiefer in die Bewegungen ein, die ihr Körper instinktiv vollführte, ehe sie irritiert innehielt. Sie sah sich um, weil sie sich plötzlich beobachtet fühlte. Gänsehaut überzog sie in Windeseile, derweil sie dachte, jemand würde die Haut zwischen ihren Schulterblättern abziehen. Noch während sie sich einen Narr schalt, da sie niemanden entdecken konnte, erstarrte sie, als sie in stechendblaue Augen schaute, die in dem Gesicht beheimatet waren, das sie bis in ihre Träume verfolgte.

Sie konnte nur zurück starren, derweil ein Energiestoß durch ihren Körper zuckte und ihr Herz einige Schläge verpasste, ehe es davongaloppierte. Da saß Dag knapp zwei Meter weiter mit einer hübschen Blondine im Arm und fixierte sie. Sofort war es wieder da, dieses beschissene Kribbeln, das sie vom ersten Augenblick so gemartert hatte. Das daran schuld war, dass sie in den letzten beiden Monaten kaum aus dem Bett gekommen war, weil sie ihren Gefühlen für Dag ja hatte nachgeben müssen. Doch auch heiße Eifersucht flutete sie.

Sie strich sich automatisch eine der weichen Locken zur Seite, während sein Blick an ihr herabglitt, nur um sich dann wieder auf ihr Gesicht zu heften. Sie schluckte hart. Der Ausdruck in seinen Augen war ihr bekannt und es löste noch mehr Prickeln aus, das sich in ihrem Bauch sammelte. Fast war sie verwundert darüber, dass niemand sich über die Funken beschwerte, die gerade zwischen Dag und ihr die Luft elektrisierten.

Er war gar nicht ihr Typ, versuchte sie sich zu erinnern und doch konnte sie nur daran denken, welche delikaten Gefühle seine Lippen auf ihr auslösen konnten. Wie es sich angefühlt hatte, zu spüren und zu hören, dass sie die Macht hatte, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Mehr hätte das auch nie werden sollen. Nicht, wenn es nach ihr ging. Sie war keine Frau, auf die sich Männer langfristig festlegten.

,Und diesem Schmerz wollte ich mich nie wieder aussetzen. Nicht genug zu sein', rief sie sich mühselig in Erinnerung und zwang sich, den Augenkontakt zu unterbrechen.

Sie hatte erneut am ganzen Körper Gänsehaut und ihre Härchen hatten sich aufgestellt, bemerkte sie und automatisch wanderten ihre Augen wieder zu Dag. Der beobachtete sie weiterhin unbeirrt. Nahm er die Blondine in seinem Arm weiter wahr oder hatten für ihn ebenfalls Zeit und Raum an Bedeutung verloren? Dachte er auch an den Moment unter der Straßenlaterne, an dem sie sich nur noch ein paar Zentimeter hätte nach vorne beugen müssen, um ihn zu schmecken?

Wie gerne würde sie sich jetzt zu ihm neigen und ihre Lippen auf seine zu drücken? Aber sie war nicht gut für ihn. Er hatte es ihr gesagt. Dass sie ihn krank machte. Und sie hatte gespürt, dass es die Wahrheit war. Wieder brannten die gleichen ungeweinten Tränen in ihren Augen, wie jene, die sie verdrängt hatte, als sie aus seiner Wohnung geflohen war.

Sie musste ihn vergessen. Endgültig. Es sprach zu viel gegen sie. Sie hatte es immer gewusst, wollte es aber nicht sehen. Schwerfällig riss sie ihren Blick los und wandte sich um. Sie musste weg hier, ehe sie ganz vergaß, wieso sie ihn als Vergangenheit abtun musste. Sie ignorierte Iaras verwirrten Gesichtsausdruck und bahnte sich weiter ihren Weg durch die tanzende Meute. Doch ihr wurde bei jedem Schritt das Herz ein bisschen enger. Es war richtig, auch wenn die Betonklötze an ihren Füßen was anderes erklärten. Er hatte eine Frau verdient, die nicht so kompliziert war. Die sich nicht nicht erkannte, falls sie sich nicht topgestylt aus dem Spiegel entgegenblickte. Die wusste, was aus ihr werden sollte.

Das war er wert. Und noch so viel mehr, sagte sie sich, obwohl ihr das Herz gerade nochmal brach und dessen Splitter ihr durch die Finger rannen. Sie musste ihn gehen lassen, egal, wie sehr sie ihn liebte, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte, um aus dem Club zu kommen, weil diese Erkenntnis ihr den Rest gab.

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now