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Sie landete, legte ihre Flügel an und prustete sich energisch eine ihrer Locken aus dem Gesicht. Schon hatte sich wieder Frust in ihr breitgemacht, dachte sie, während sie die mit goldenen Steinen gepflasterten Wege entlanghastete. Wie konnte Nathan es wagen, ihr zu Nahe zu kommen! Selbst, wenn er ihr nur hatte alles erklären wollen und sie falschgelegen hatte, hätte ihm die Tatsache, dass sie ihm nicht gefolgt war, als Antwort reichen müssen!

Jetzt würde sie wieder wochenlang jede Sekunde an ihn denken müssen, wo sie das doch gerade abgelegt hatte! Sie hatte gehofft, dass er noch nicht lange genug bei den Gefallenen war, damit er entsandt wurde, aber da hatte sie sich getäuscht. Nathans Charme hatte bisher noch jeden um den Finger wickeln können. Das wusste sie leider aus Erfahrung.

Sie verfluchte den Tag, an dem sie ihn in dieser Dorfschenke entdeckt hatte! Sofort krampfte sich ihr Herz wieder zusammen und strafte ihre Gedanken Lügen. Verzweiflung kochte aufs Neue hoch, so wie es in den Monaten zuvor gewesen war. Gefallene durften nicht auf die Erde, an den Tagen, an denen die „Reinen" dort waren. Obwohl sie das wusste, hatte sie sich immer wieder automatisch suchend nach ihm umgesehen.

Nicht nur einmal war sie Männern gefolgt, die ihm ähnlich sahen, nur, um dann festzustellen, dass es nicht Nathan war, der ihr gegenüberstand. Jedes Mal war ein Splitter mehr aus ihr herausgebrochen. Es hatte Wochen gedauert, bis sie sich damit abgefunden hatte, dass sie ihn nie wieder so berühren konnte, wie sie es in ihrer gemeinsamen Zeit auf Erden getan hatte.

Genau deswegen sollte Engel nicht zu Engel finden! Zu wissen, dass der andere irgendwo wandelte, ohne wirklich Zusammensein zu können, ohne wirkliche Zukunft in der Ewigkeit, brachte nur Unglück! Es war also besser so. Daran musste sie nur wieder glauben, so wacklig diese Erkenntnis auch schon vor der heutigen Begegnung gewesen war.

Sie trat an den Jungbrunnen, der sich inmitten des einer mittelalterlichen Stadt nachempfundenen Ortskerns befand und wollte ihr Gesicht benetzen, als ihr Blick auf ihr Spiegelbild traf. Ihre silbrigen Augen hatten ebenso ein wenig Glanz eingebüßt wie sie selbst. Zu wissen, dass Nathan nicht mehr in dem Café des Dorfes wartete, das aus der Schenke geworden war, nagte weiterhin an ihr. Auch, wenn sie sich das nicht eingestehen wollte, war es so.

Sie seufzte tief und wollte mit ihren Händen etwas Wasser schöpfen, als ihr auffiel, dass sich ihre Finger um Nathans Daune gekrampft hatten. Die brannte jetzt ein Loch in ihre Handfläche. So, wie es sein Blick getan hatte, als sie vor ihm geflüchtet war.

„Aaaaaargh! Wieso bin ich dir nur begegnet, Nathan?! Wenn ich könnte, würde ich dich verfluchen, weil du mir mein Herz gestohlen hast!", rief sie aus und wollte die Feder abschütteln, doch sie ging nicht ab.

Es war, als hätte sie sich mit ihr verbunden! Schnell tauchte sie die Hand ins Wasser und beobachtete, wie die Daune sich von ihr löste. Dann trieb sie von ihr weg und als sie das sah, fluchte sie unflätig und fischte danach. Sie konnte sie nicht zurücklassen. Sie war ein Teil von Nathan. So wie er jetzt war.

Sie schloss resignierend die Augen, als ihre Finger sich wieder um die Feder schlossen und seufzte. Sie war dem Untergang geweiht, wenn sie das nicht in den Griff bekam. Wütend auf sich selbst stapfte sie zu ihrer Unterkunft. Manchmal amüsierte sie sich darüber, dass die Menschen dachten, sie würden auf Wolken schlafen. Sie schliefen nie, wenn man es genau nahm. Sie aßen auch nicht und hatten keinen Durst. Sie lebten von Licht und Luft.

‚Wieso denke ich jetzt darüber nach?!', fragte sie sich entnervt und warf die Tür zu, um sich in dem kargen Zimmer umzusehen, in dem sie „schlief", wenn sie in die Menschengestalt schlüpfte.

Vor Nathan hatte sie sich nie gefragt, ob sie glücklich war. Sie hatte schlicht existiert. Doch jetzt riss immer öfter Unzufriedenheit an ihr. Sie war ein gottgleiches Wesen und konnte so oft nur darüber nachdenken, wie viel bunter die Menschenwelt war. Wie viel sie erleben konnten. Sie stand nur als Beobachterin daneben, versuchte ihren guten Willen zu lenken.

Trotzdem hatte sie sich für die Unendlichkeit entschieden. Doch es fehlte ihr, wie Nathan sie berührt hatte. Heute noch mehr, da der Impuls so stark gewesen war, ihn zu spüren, seine Hand auf sich zu spüren. Wieder fiel ihr Blick auf die Feder und ihre Hände fingen zu zittern an. Diese Unruhe, sie war neu, seit er aus ihrem Alltag verschwunden war. Seit er nicht mehr bei ihr war, sobald sie zum Menschen wurde.

Alles in ihr zog sich wieder zusammen und erneut fing sie an zu schluchzen. Das hätte nie passieren dürfen. Und doch war es geschehen. Ohne ihn zu sein, machte sie machtlos. Quälte sie so unwahrscheinlich. Stahl ihr das Licht. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie die Daune fixierte. Sogar dieser kleine Teil von ihm hatte eine unfassbare Anziehung auf sie. Sie hätte sie am Brunnen lassen sollen.

Aber dann wäre sie vielleicht endgültig zerbrochen. So hatte sich der kurze Moment angefühlt, in dem sie die Feder nicht in ihren Händen gehalten hatte.

‚Ich werde ihn ewig lieben', erkannte sie plötzlich und schluchzte noch mehr.

Wozu dann das Ganze? Wieso setzte sie sich diesen Qualen aus, wenn sie ohnehin unabänderlich waren? Immer wieder? Denn nach heute bestand kein Zweifel mehr daran, dass er auch künftig ein Gesandter der Gefallenen sein würde. Diese Ehre konnte einem nicht mehr aberkannt werden. Es war so ähnlich wie der Diplomatenstatus bei Menschen. Sie würde ihm also immer wieder über den Weg laufen, ohne ihm jemals wieder näher kommen zu können.

„Nein. Das kann ich nicht. Du hast gewonnen, Nathan", flüsterte sie und plötzlich fühlte sie Ruhe.

Sie hatte keine Angst mehr. Ohne ihn zu sein, war viel beängstigender.

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now