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Sie schaute auf ihre neue Heimatstadt hinunter, während die Nacht sie einhüllte und sie bekam plötzlich wieder richtig Luft. Der Alptraum hatte ihr richtig zu schaffen gemacht, sie hatte das Gefühl gehabt, zu ersticken. Noch immer meinte sie, sie könnte die Fesseln aus ihrem Traum um ihren Körper fühlen, auch wenn diese Empfindung langsam nachließ.

Sie rieb über die Stelle am Handgelenk, wo das Prickeln noch am schärfsten war und bemerkte, wie er sich still neben sie stellte und mit ihr hinunter auf ihren Neuanfang sah. Er hatte sie hierhergebracht, um ihr etwas zu zeigen. Sie hatte begriffen: Das war ihr Neuanfang, sie hatte sich von den Fesseln befreien können.

Aus den Boxen seines Wagens klang „Im Ascheregen" von Caspar, das auch ihr Klingelton war, weil sie das so empfand. Sie hatte ihr altes Leben so gut es ging hinter sich gelassen. Doch gefühlt hatte sie es nie, auch wenn sie es sich vorgebetet hatte. Es war irgendwie nicht angekommen. Doch jetzt drang es durch sie, in diesem Moment, wo sie auf ihre neue Heimat hinuntersah, hinter sich ein Denkmal vergangener Zeiten.

Doch nicht nur die Erkenntnis rollte durch sie, dass sie ihrem alten Leben entkommen war, sich keine Fesseln mehr um ihren Körper legten, sondern auch etwas anderes: Stolz. Heißer, glühender Stolz erfasste sie so unvermittelt, dass sie es ihr den Atem nahm. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt stolz auf sich gewesen war. War sie das jemals gewesen? Wieso nicht?

Sie hatte die Stimmen in ihrem Kopf erfolgreich bekämpft und hatte sich freigemacht von dem, was sie belastet hatte. Nicht zum ersten Mal, doch nie war sie stolz darauf gewesen. Doch jetzt erfüllte sie diese Emotion bis in die letzte Zelle ihres Körpers. Denn das war sie gewesen, ganz allein, auch, wenn sie moralische Unterstützung durch ihre Freunde gehabt hatte, so war sie die Schritte letztlich selbst gegangen.

Obwohl es sie so viel Kraft gekostet hatte, nicht von ihrem Ziel abzuweichen und einen Fuß vor den nächsten zu setzen, egal, wie laut ihre Dämonen in ihr gewütet haben und ihr das vorgebetet hatten, was ihr seit jeher eingebläut worden war. Und jetzt war sie tatsächlich frei. Sie hatte vorher schon gedacht, sie wäre frei gewesen, doch sie hatte sich selbst wieder in Ketten gelegt, indem sie still erduldet hatte, was sich zugetragen hatte.

Plötzlich merkte sie, dass sie sich das nicht mehr vorwarf. Denn so wie es aussah, hatte sie nur Anlauf genommen um in ein freies, selbstbestimmtes Leben zu springen. Innerhalb von drei Monaten hatte sie sich freigeschwommen, vom beschlossenen Ende ihrer Ehe bis zum Ankommen im Alleinsein. Wie viel Angst sie immer wieder geflutet hatte! Wie viele Bedenken sie bis heute begleitet hatten!

Jetzt waren sie von ihr abgefallen, merkte sie plötzlich und musterte aus dem Augenwinkel den Mann, der sie hierhergebracht hatte, um ihr den Raum zu geben, diese wichtigen Einsichten zu erlangen. Für sich. Sie hatte die Befürchtung, dass er diese Dinge schon länger wusste, denn er hatte sie immer so behandelt, als hätte sie Unglaubliches geleistet. Auch ihre Freunde hatten ihr das immer wieder gesagt, doch angekommen war es nie.

Aber jetzt war es auch für sie Gewissheit, in diesem Moment, wo seine Nähe sie zusätzlich mit Ehrfurcht flutete. Sie hatte wahrscheinlich lange nicht mehr so eine schöne Nacht gesehen wie diese, in der die Lichter der Stadt mit den Sternen am Himmel um die Wette funkelten. Automatisch griff sie nach seiner Hand und verflocht ihre Finger mit seinen. Auch diese Gefühle ängstigten sie nicht mehr, fiel ihr auf, als seine Wärme sich auf ihre kalten Finger übertrug.

Ja, sie hatte sich verliebt, aber das hieß nicht, dass damit wieder Ketten einhergingen. Der Mann neben ihr wollte das auch gar nicht, ging ihr auf. Er mochte es, dass sie ihr Leben nun so führte, wie sie es tat und wollte sie lediglich dabei begleiten. Das zeigte im Grunde jede Einzelheit seines Verhaltens, denn er hatte nie mehr gefordert, als sie zu geben bereit war.

Also würde sie jetzt nochmal einen Sprung wagen: Sie würde ihm einen festen Platz in ihrem Leben einräumen und sehen, wohin der Weg sie führte. Sollten doch wieder Ketten auftauchen wusste sie ja jetzt, wie sie ihnen entkommen konnte und dass sie auch dazu fähig war, dachte sie und nochmal schwellte sich automatisch ihre Brust vor Stolz, als sie tief die klare Nachtluft einatmete und den Frieden genoss, der von ihr Besitz genommen hatte.

Im Augenwinkel sah sie ihn grinsen und als sie sich zu ihm umdrehte, zog sie ihn zu sich, um ihn zu küssen. Das fühlte sich so richtig an. Endlich fühlte es sich richtig an. Dazu hatte es nur diesen Blick auf die Stadt gebraucht und die Erkenntnis, dass ihr altes Leben im Ascheregen lag, weil sie sich von ihm abgewandt hatte.

„Bleibst du bei mir?"

Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und er legte seine Arme um ihre Taille, ehe er murmelte: „Ich dachte, du fragst nie."

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now