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Er wusste gar nicht, was er hier sollte. Immerhin war er an diesem Ort völlig fehl am Platz. Er rümpfte die Nase, weil dieses Geruchswirrwarr ihm unangenehm war: Unrat, fremdartige Gewürze, Schweiß in einen stickigen Mantel gepackt. Alles in ihm schrie, dass er sich verpissen oder noch besser, den Laden in Brand stecken sollte. Wenn darin nicht eine Person wäre, die er wirklich liebte, würde er es auch sofort tun. Aber seine kleine Schwester hatte sich ja dafür entschieden, allem den Rücken zu kehren, was sie sie gelehrt hatten und verbrachte ihre Zeit nun hier.

Nicht nur das! Sie war weggelaufen und WOHNTE nun hier! Bei diesen Halbaffen, diesen... Er atmete einmal tief ein und versuchte sich zu beruhigen. Egal, wie sehr es ihm widerstrebte, Eva hatte sich entschieden und schien sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Er hatte gewusst, dass es ein Fehler war, sie die Sozialstunden im Asylheim antreten zu lassen. Sie hatte eine zarte Natur, egal, wie stark sie tat. Darin glich sie ihrer Mutter, ohne, dass sie das wissen konnte. Aber er wusste es noch.

Wie sanftmütig seine Mutter gewesen war, bevor der Angriff eines Halbaffen auf sie, sie zu Fall gebracht hatte. Eva war noch zu klein gewesen, als ihre Mutter an ihrem Schicksal zerbrochen war. Dennoch trug auch seine Schwester Narben davon - sogar sichtbare. Wieder einmal überlief ihn ein Schauer, als er an jenen Tag dachte, an dem ihre Welt endgültig zerbrochen war. Seitdem hatte er alles getan, um Eva in Sicherheit zu wissen. Er hatte diese Parasiten bekämpft, um zu wissen, dass er dem Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte, gerecht wurde: Du bist bald ihr großer Bruder und Brüder passen auf ihre kleinen Schwestern auf.

Genau deswegen war er da. Sein Vater hatte Evas Sachen entsorgen wollen und er hatte sie beiseite geschafft. Sie sollte nicht auf Almosen anderer angewiesen sein. Nicht so, wie sie es ihm bei ihrem Zusammentreffen an den Kopf geschleudert hatte, als sie ihn abgepasst hatte, um ihm zu sagen, dass sie nicht mehr nach Hause käme. Weil sie nicht mehr an das glaube, was Vater und er glaubten. Er hätte sie am liebsten geschüttelt, um ihr zu sagen, wie falsch sie lag, erinnerte er sich und schüttelte den Kopf. Denn ihr Blick war so flehentlich gewesen und gleichzeitig hatte er gespürt, dass sie tatsächlich ein anderer Mensch geworden war.

Also hatte er darüber gebrütet und war zum Entschluss gekommen, dass es wahrscheinlich besser war für Eva, ihren Weg zu gehen. Dann halt ohne ihn. Er konnte sich nicht so weit herablassen, diese Tiere als Menschen zu sehen.

„Joseph, oder?", hörte er plötzlich und wirbelte herum.

Da stand der Grund für die Veränderung seiner Schwester und er war wieder kurz davor, auszurasten. Automatisch richtete er sich nochmal ein bisschen auf, während der die Hände in seine Jeanstaschen geschoben hatte und ihn fragend ansah. Er wirkte nicht bedrohlich, aber alleine waren die alle Schwächlinge. Die fühlten sich nur stark, wenn sie in der Masse auftraten.

Der deutete auf den Karton in seinen Händen und fragte: „Für Eva?"

„Hm", machte er und bemerkte, wie die Augen des anderen zu leuchten begannen, ehe er nickte.

Was hatte das denn zu bedeuten? Durfte ein Bruder seiner Schwester nicht mal ihre Sachen bringen, wenn er sie schon abschreiben musste? Wieso grinste dieser...

„Bringe ich Sie zu Eva", unterbrach der seine Gedanken und er nickte nur.

„Das heißt: ICH BRINGE Sie zu Eva. Wenn schon richtig", rutschte ihm heraus und der Kerl grinste noch breiter.

„Was grinst du so blöde?!", fauchte Joseph und der vor ihm zuckte gelassen mit den Schultern.

„Hätte Eva auch gesagt. Ist sie unser Grammatik-Aufpasser. Sie schimpft uns immer, wenn wir machen etwas falsch beim Sprechen."

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