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Eva starrte die Wand an, die sie verschönern sollte und er spürte, wie die Verlorenheit in Wellen von ihr ausging, wie sehr sie sich nach Rückhalt von der Familie sehnte. Der Song drang trotz ihrer Kopfhörer gedämpft zu ihm und schnitt ihm ins Herz. Er wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte: Wenn sich das Weltbild von einem Tag auf den anderen verschob und man nicht mehr wusste, woran man noch glauben sollte.

Ihm war es ebenso ergangen. Im Grunde waren die kahlen, graubeigen Wände des Raumes, der Fröhlichkeit, Zusammenhalt und Sicherheit vermitteln sollte, das Sinnbild für das, was sich in Eva abspielte. Und in allen anderen von ihnen. Das begriff er in diesem Moment, als sie mit hängenden Schultern auf die Mauer vor sich ansah und so verloren wirkte. Eva hatte nur einen Blick in dieses Zimmer geworfen und gesagt, sie hätte nie ein traurigeres Spielzimmer gesehen.

Es wurde auch kaum benutzt von den Kindern hier im Asylheim, wo sie notdürftig untergebracht waren, bis sie die Nachricht über ihren endgültigen Verbleib hatten. Durften sie bleiben und sich in Sicherheit wähnen oder mussten sie zurück dorthin, wo in vielen Fällen der Tod, Folter und Zwangsverheiratungen auf sie warteten? Viele warteten schon ewig auf die Antwort darauf. Manche hatten sich schon aufgegeben.

Sie saßen in ihren Zimmern und starrten die Wand gegenüber ihres Bettes an, während sie gegen die Dämonen kämpften, denen sie ausgesetzt waren. Diese Männer und Frauen nahmen nicht mehr am Sozialleben im Heim teil, sie grenzten sich ab. Doch viele waren auch glücklich darüber, es bisher geschafft zu haben und gaben die Hoffnung nicht auf. Sie lernten Deutsch und wollten ein gewinnbringender Teil der Gesellschaft werden, sofern sie bleiben durften.

Ok, einige glaubten auch, sie wären klüger als die Hand, die sie fütterte, gab er insgeheim zu und dachte dabei an einen bestimmten Bewohner, der immer wieder für Ärger sorgte. Er seufzte und strich sich durch seine dunklen Haare. Eva stand immer noch wie in Stein gemeißelt vor ihm und regte sich nicht, während der Song schon zum wiederholten Male an ihre Ohren drang.

Woran dachte sie? Dachte sie daran, dass jeder Schritt zu ihrem Selbst sie mehr von ihrer Familie distanziert hatte? Sie hatte sich wirklich verändert, erinnerte er sich und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er daran dachte, wie mürrisch und selbstgerecht sie gewesen war, als sie an ihrem ersten Tag hier aufgetaucht war. Und wie ängstlich. Eva hatte die Schauergeschichten geglaubt, die ihr von ihrem Bruder und ihrem Vater eingeimpft worden waren: Der Migrant als das ultimative Böse.

Alles nur Parasiten, die Vater Staat ausnehmen und den rechten Deutschen die Jobs wegnehmen wollten, genauso wie die Wohnungen oder Kindergartenplätze. Die sich wie Wilde nahmen, was ihnen nicht zustand. Das hatten sie ihr beigebracht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie das jemals richtig verinnerlicht hatte. Sonst wäre ihr mitfühlendes Herz erkaltet und sie würde sich nicht ins Spielzimmer schleichen, um dort ihre alten Stofftiere für die Kinder zu hinterlegen. Oder ihre alten Kinderbücher.

,Sie würde auch nicht vor der Deutschklasse stehen und ein Kinderlied singen, damit wir alle besser lernen, wie wir die Buchstaben aussprechen müssen, damit sie so klingen, wie sie sollen', dachte er und das Lächeln huschte wieder auf seine Lippen, als er sich daran erinnerte, wie Eva verzweifelt versucht hatte, sich nicht davon beeindrucken zu lassen, dass daraufhin den ganzen Nachmittag genau jenes Lied durchs Haus geschwebt war.

Dann seufzte er erneut. Er würde ihr so gerne ihren Schmerz nehmen. Sie hatte sich auf die Menschen hier im Asylheim eingelassen. Ihr gehetzter Gesichtsausdruck baute sich in seinen Gedanken auf, als ihr Bruder sie einmal unverhofft abgeholt und sie mit ihm noch gesprochen hatte. Wie flehentlich sie ihn angesehen hatte, als sie ihn mit ganzer Kraft von sich gestoßen hatte, nur, um nicht zu offenbaren, dass sie nicht mehr an die Dogmen glaubte, die ihr Umfeld vertrat.

Es musste sie innerlich zerreißen. Sie war wie ein gebrochenes Vöglein bei ihnen erschienen, das an Stärke gewonnen hatte und nun ausprobierte, wie es war, die Flügel zu spreizen und abzuheben. Doch der Klotz an ihren Beinen war noch zu schwer, um wirklich fliegen zu können. Sie war wie er eine Gefangene in ihrem eigenen Käfig. Ob ihr das bewusst war? Dass sie mehr gemeinsam hatten, als sie sich am Anfang hätte vorstellen können?

Es war jedenfalls Zeit, ihre Starre zu beenden, dachte er und trat mit langsamen Schritten an ihre Seite. Sie wandte sofort ihr Gesicht zu ihm und schaute ihn mit einem traurigen Lächeln an. Er griff nach ihrer Hand und verschränkte ihre Finger miteinander. Seine warm, ihre eiskalt. Seine in einem dunkleren Bronzeton, ihre rosabeige. Keiner von ihnen beiden war mehr allein in seinem Käfig. Wider aller Logik hatten sie zueinander gefunden.

Er schob ihr die Kopfhörer mit seiner freien Hand vom Schädel und Eva biss sich auf die Lippen und wurde ein bisschen rot. Sie hatte erst jetzt begriffen, dass er wusste, was sie gerade empfand und das war ihr peinlich. Er fand nichts Peinliches daran, sich nach den Menschen zu sehnen, die einen so maßgeblich beeinflusst hatten. Den eigenen Weg ohne diesen Rückhalt zu finden, war schwer.

„Komm, Habibti. Machen wir Spielzimmer daraus. Wo Babyvögel können fliegen und wissen, sie können sich probieren", murmelte er und sah, wie Eva die Stirn runzelte.

„Ich weiß doch aber noch gar nicht, was ich machen soll, Rasin."

„Ein Himmel wäre ein Anfang, oder?"

Sie sah ihn verwirrt an, ehe sie die Wand anschaute. Als sie ihr Gesicht wieder zu ihm wandte, glänzten ihre Augen und ihr Mimik hatte sich erhellt. Sofort setzte sein Herz einen Schlag aus. So wollte er sie sehen.

„Ja, ein Himmel wäre ein Anfang. Und Vögel. Viele. Die fliegen. In alle Richtungen, weil sie frei sind. Nichts beschwert sie. So sollten Kinder aufwachsen. Fernab von allem, was sie beschwert."

Er nickte nur, weil sich seine Brust zuzog. Sie würde Hoffnung in diesen Raum bringen, so viel war sicher. Nicht nur für die Kinder in diesem Heim. Sondern für sie alle. Ob sie wusste, dass sie seine Hoffnung neu angefacht hatte? Wahrscheinlich nicht. Er würde es ihr sagen. Irgendwann. Doch im Moment reichte es, dass sie selbst wieder strahlte. Darum ließ er sie wortlos los und reichte ihr den Pinsel.

Ein Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit und er beobachtete, wie sie mit neuer Energie gefüllt, den Eimer mit der blauen Farbe öffnete und das Malgerät eintauchte. Als ihr Blick ihn nochmal streifte, lächelte er sie bekräftigend an, was sie noch mehr zum Strahlen brachte. Während Eva mit dem ersten Pinselstrich ihre Zukunft an die Wand brachte, spürte er, wie auch Anspannung von ihm abfiel. Sie hatten eine Zukunft. Davon hatte er geträumt, während er aus seinem Heimatland geflüchtet war. Jetzt konnte er sie auch sehen.

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now