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„Hey", sagte sie und merkte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte.

Wie immer, wenn sie ihn sah und das schon seit Ewigkeiten. Er drehte auch den Kopf zu ihr und musterte sie kurz. Sie versuchte, eine Gefühlsregung auf seinem Gesicht auszumachen, doch sie erkannte nichts. Sofort zog sich ihre Brust zusammen. Wieso hatte sie gehofft, dass ihr letztes Treffen doch was geändert hätte, trotz all der Dinge, die zwischen ihnen standen?

„Hey", brachte er zustande und sie spürte, dass er nur nicht unhöflich sein wollte.

Also setzte sie ein unverbindliches Lächeln auf und nickte ihm nochmal zu, während sie sich abwandte, um zu gehen. Sie hatte sich doch gesagt, dass die Nacht, in der sie ihren Gefühlen nach- und sich ihm hingegeben hatte, nichts ändern würde. Trotzdem hatte sie die leise Hoffnung in sich nicht zum Schweigen bringen können. Er hatte sie glauben lassen, er würde auch mehr für sie empfinden. Sie hatte es in seinen Berührungen gefühlt.

Oder zumindest hatte sie das gewollt, erklärte sie sich und drehte sich automatisch nochmal zu dem hochgewachsenen Kerl um, der ihr Herz schon so lange ausfüllte, genauso wie ihre Gedanken. Er war kein typischer Schönling, aber das hatte sie nie interessiert. Er hatte braunes Haar, braune Augen und ein paar Pfunde zu viel. Er war eigentlich unsicher, obwohl er so tat, als wäre er es nicht. Und er war der, der ihr ins Gesicht sah und bei dem sie dachte, er könnte bis zum Grund ihrer Seele blicken.

So war es schon immer gewesen. Zwischen ihnen hatte immer diese komische Anziehung bestanden, die sie immer wieder zurück zu ihm geführt hatte. Sie hatte nie hinterfragt, woher diese Verbundenheit kam, sondern sie schlicht akzeptiert. Wahrscheinlich hatte sie deswegen gehofft, dass ihre Nacht etwas geändert hatte, sagte sie sich und schluckte hart, als ein anderes Mädchen auf ihn zutrat und sich sofort ein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht zeigte.

Augenblicklich schossen Tränen in ihre Augen, die sie wegblinzelte. Sie konnte kaum atmen, während sie beobachtete, wie sich seine Hand auf die Taille der anderen legte. Dass ihre Haut an der gleichen Stelle prickelte, weil sie sich daran erinnerte, wie seine Finger sich dort angefühlt hatten, half ihr auch nicht, den Knoten in ihrer Brust zu lösen. Sie hatte keinerlei Ansprüche auf ihn, hatte sie nie gehabt.

Sie wollte wegsehen, doch sie konnte nicht, musste zusehen, wie sich die Blondine zu ihm beugte und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. Ihr Herz raste, während es wieder einmal zu Staub zerfiel. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum sie sich dem aussetzte. Wieso sie nicht endlich einsehen konnte, dass er nicht zu ihr gehörte. Oder zu ihr gehören wollte. Denn sie wusste, dass er diese Anziehung ebenfalls fühlte. Diese Nacht war nur der Höhepunkt davon gewesen, doch bis dorthin hatte er sich ihr immer wieder genähert. Bevor er zurückgeschreckt war. Sie wusste, dass ihm ihre Verbundenheit ungeheuer war und er nicht damit umzugehen wusste.

Doch das machte es nicht leichter, jedes Mal zuzusehen, wie er Beziehungen zu anderen einging statt mit ihr. Sie konnte nicht mal sauer sein. Denn sie wusste, was ihn dazu bewegte. Sie konnte nicht hören, was die beiden sagten, während sie sich unterhielten, doch sie las in ihrer Körpersprache: Sie wollte ihm das Gefühl geben, er sei alles, was sie wollte und er wollte sich weismachen, dass die Blondine diejenige war, die er wollte. So war es immer. Er wollte sich überzeugen, dass ihm die anderen reichten. Von Dauer war nichts gewesen.

Doch auch jetzt huschte sein Blick zu ihr und sofort überlief sie ein Schauer, während er wieder durch die mühsam errichteten Mauern drang und ihr Innerstes berührte. Kurz schloss sie Augen, um den Kloß in ihrem Hals herunterschlucken zu können, der jeden Moment platzen würde. Er war so prall, dass er ihr die Sauerstoffzufuhr zunehmend abschnürte, weil er gegen ihre Luftröhre zu drücken schien. Als sie ihre Augenlider wieder öffnete, verhakten sich ihre Blicke kurz, ehe er sich abwandte und seine Aufmerksamkeit wieder der Blondine vor sich widmete.

Sie musste hier weg. Sonst würde sie endgültig in Tränen ausbrechen und sie hatte sich geschworen, ihm nie zu zeigen oder zu sagen, dass er alles war, das sie je wirklich begehrt hatte. Es wurde Zeit, sich von ihm loszusagen. Was brachte Verbundenheit und das Wissen, dass sie im Prinzip zueinander gehörten, wenn sich einer dagegen sträubte? Kummer, mehr beinhaltete dieser Fakt nicht. Und das sollte sie akzeptieren.

Sie zwang ihren Körper, ihrem Befehl zu folgen, sich abzuwenden und zu gehen. Schwerfällig folgten ihre Beine der Anweisung und sie merkte, wie sie scheinbar in Zeitlupe Distanz zwischen ihn und sich brachte. Nochmal rieselte ein Schauer über ihren Rücken und sie wusste instinktiv, dass er ihr nachsah. Doch sie schob diese Erkenntnis weg, sie musste sich um was anderes kümmern.

Sie hoffte wirklich, dass der Arzt nicht bestätigte, was sie vermutete und was sie ihm hatte erzählen wollen, als sie ihn angesprochen hatte. Vielleicht war es besser, dass sie es ihm nicht hatte stecken können, beruhigte sie sich und lief zur Bushaltestelle. Falls der Arzt das Testergebnis bestätigte, musste sie es ihm sowieso sagen.

,Dann werden die Karten ohnehin nochmal neu gemischt', hallte durch ihre Gedanken, während sie unwillig den Kopf schüttelte und sie von neuer Hoffnung geflutet wurde.

Sie musste damit aufhören und sollte nur hoffen, dass ihre magische Nacht keine Folgen hatte, sagte sie sich und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Nachdem sie einen Fahrschein gelöst hatte, ließ sie sich zitternd vor Angst auf einen der Sitze fallen. Sie würde sehen, wie es weiterging. Aber wenn sie wirklich sein Kind unterm Herzen trug, wusste sie noch weniger, wie es ihr gelingen sollte, ihn ziehen zu lassen.

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now