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Er betrat das kleine Café in dem Dörfchen, durch das ihn seine Reise geführt hatte, und setzte sich an einen der kleinen Tische, die in den charmanten Gastraum aufgestellt worden waren. Irgendwie fühlte sich diese Gegend bekannt an, obwohl er noch nie zuvor hier gewesen war.

Er hatte eigentlich im Zug sitzen bleiben wollen und doch hatte irgendwas in ihm ihn angetrieben, die Bahn zu verlassen, als sie in diesem malerischen Dörfchen Halt gemacht hatten. Dieses Bauchgefühl hatte sich immer mehr verstärkt, während er im schimmerigen Frühlingslicht durch die engen Gassen gelaufen und sich umgesehen hatte.

Wie von selbst hatten seine Füße den Weg hierher gefunden, dachte er kopfschüttelnd und verwirrt, während er die verschnörkelte Karte zur Hand nahm und sich überlegte, ob ihm eher nach einem Latte oder einer Cola war. Doch dann blieb sein Blick an einem Getränkeposten hängen, der ihn noch mehr irritierte: Ein Haselnuss-Milchshake. Er wurde immer belächelt für diese Vorliebe.

„Hey, hallo. Hast du schon was gefunden?", wurde er aus seinen Gedanken gerissen und er hob den Blick, um in silbergraue Augen zu sehen.

Sein Herz setzte einen Schlag aus und er schluckte trocken, als ihn ein Stromstoß durchlief. Auch das Mädchen vor ihm starrte ihn verwirrt an und er beobachtete, wie sie eine Gänsehaut überlief. Wie sich die feinen Härchen auf ihren nackten Armen aufstellten. War er ihr unbehaglich?

„Äh, ich ... hm ... ich möchte ... also ... einen Haselnuss-Milchshake", brachte er mühsam heraus und jetzt wurden ihre Augen ganz groß.

„Echt jetzt? Denn hat noch nie jemand bestellt. Mein Vater wollte ihn schon von der Karte nehmen, aber ... äh ... ich hab gesagt, irgendwann kommt der Richtige und ... Ein Haselnuss-Shake. Kommt sofort."

Völlig verdutzt beobachtete er, wie sie auf den Absätzen kehrt machte und sich Lichtreflexe in ihrem Haar fingen und ihren einen noch seidigeren Schimmer verliehen. Seine Augen wanderten automatisch an ihrer Gestalt herunter und plötzlich stockte ihm der Atem. Ihr Top gab ihre Schulterblätter frei. Da ... da waren ... Das konnte nicht sein! Sie konnte unmöglich die gleichen Narben wie er haben!

Er wusste noch nicht mal, wieso er diese Wundmale hatte, die aussahen, als hätte man dort etwas weggebrannt. Seine Eltern hatte er nie kennengelernt und es gab keine Krankenakte über eine derartige Verletzung. Seine Betreuer im Heim hatten ihm dazu auch keine Auskunft geben können. Und jetzt hatte dieses Mädchen die gleichen Narben?

Sein Verstand weigerte sich vehement gegen diese Tatsache, aber er hatte es doch mit eigenen Augen gesehen! Sie hatte die gleichen Unebenheiten auf ihrer sonst makellosen, rosigen Haut! Was passierte hier gerade? Wieso legte sich plötzlich diese Unruhe, die ihn dazu bewogen hatte, seine Heimatstadt zu verlassen und auf Reisen zu gehen, ohne zu wissen, was sein Ziel war?

Er schaute auf seine zittrigen Hände, die er weiterhin die Karte umschlossen und legte sie beiseite. Doch er war zu verwirrt, um stillzusitzen. Warum hatte er gerade das Gefühl, als schließe sich ein Kreis? Das war unmöglich. Er war noch nie hier gewesen und das aufkeimende Heimatgefühl war genauso irrational wie das plötzliche Erkennen, das ihn beim Blick in die Augen seiner Kellnerin geflutet hatte.

Er glaubte nicht an so Hokuspokus wie Karma oder Schicksal. Jeder war seines Glückes selbst Schmied. Es gab nichts vorbestimmtes, das Leben passierte einfach und man setzte sich mit dem auseinander, was geschehen war. So war das. Aber alles in ihm schrie, dass er falschlag. Dass er jetzt da war, wohin er gehörte.

„Hier, hm. Der Shake. Äh, magst du noch was essen? Wir haben echt leckere Zimtschnecken. Die hab ich auch gerade aus dem Ofen ... Also, äh. Ich heiße Eliza. Ich weiß nicht, wieso ich das jetzt sage, aber ich hab das Gefühl, ich muss es tun. Irgendwie. Äh, ich ... ich lass dich dann mal ... ich sollte ... die anderen Gäste ... Sind kaum welche, aber ..."

„Ich heiße Nathanael. Aber alle nennen mich Nathan", erwiderte er und bemerkte, wie sich irgendwas in ihm wieder zusammensetzte.

Irgendwas, von dem er nie kapiert hatte, wieso es nicht ganz war. Sie starrte ihn aus ihren wahnsinnig silbrigen Augen an und  er registrierte, wie sie errötete, als sie seine Hand ergriff. FUCK, dachte er, als ein Stromstoß durch ihn jagte. Wann hatte er ihr seine Finger entgegengereckt? Und was war das für eine komische Reaktion!

„Nathan. Der Weise", murmelte sie und er schluckte, weil er das Gefühl nicht loswurde, als hätte er das schon mal erlebt - oder zumindest geträumt.

„Eigentlich bedeutet der Name 'Gottesgeschenk', also, falls man gläubig ist", klärte er sie reflexartig auf und sah, wie sie grinste.

„Hm. Wer weiß? Vielleicht gibt einen Gott und du bist mein ... äh ... ein Geschenk", scherzte sie und sein Herzschlag beschleunigte sich.

Er hielt weiterhin ihre Hand und das fühlte sich richtig an. Als wären seine Finger dazu gemacht, ihre zu berühren. Was absoluter Bullshit war. So etwas wie Liebe auf den ersten Blick gab es nicht. Eine Erfindung rührseliger Autoren und Filmemacher. Und doch fühlte sich das so richtig an, wie noch nie etwas in seinem Leben.

„Ja, vielleicht. Wer weiß das schon. Woher hast du die Narben?", erwiderte er und hielt ihren Blick mit seinem fest, während sie die Stirn runzelte.

„Ach, meine Engelsflügelnarben, meinst du?"

„Engelsflügelnarben?!?"

„Oh, äh, sorry. So nennt meine Großmutter sie. Sie behauptet, ich wäre ein vom Himmel gefallener Engel und darum hätte ich die. Sie ist etwas debil, also... Keine Ahnung, woher die kommen. Ich hab die schon auf Babyfotos. Spooky, oder?"

Sie zuckte mit den Schultern und wirkte etwas beschämt, darum sagte er: „Nicht spooky. Eher außergewöhnlich. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich die gleichen habe."

Jetzt entglitt ihr ihre Mimik, doch sie fing sich schnell wieder und murmelte: „Das erklärt alles."

„Was erklärt das?"

„Warum ich das Gefühl hab, als würde ich zu dir gehören. Was echt freaky ist. Ich hab dich doch gerade erst gesehen. Und Liebe auf den ersten Blick ist..."

„Bullshit."

Jetzt grinste sie wieder. „Genau."

Er konnte den Blick nicht von ihr wenden, obwohl er wusste, dass er wahrscheinlich wie ein Durchgeknallter wirkte. Sowas passierte doch nicht wirklich! Eliza seufzte plötzlich und ihm fiel auf, was für unwahrscheinlich lange Wimpern sie hatte. So lang, dass sie winzige Schatten auf ihre Wangen warfen.

„Trotzdem ... fühlst du das auch? Als würde irgendwas zerbrochenes sich wieder zusammensetzen? Jede Sekunde mehr?"

Er konnte nur nicken, während er plötzlich völlig zur Ruhe kam. Es war keine Frage mehr, die durch ihn hallte, nur eine Erkenntnis. Eliza gehörte zu ihm. Wieso verstand er nicht. Aber so wie es aussah hatte er ein ganzes Leben Zeit, es herauszufinden.

„Dann ist das wohl Schicksal. Irgendwer hat sich da wohl was einfallen lassen", entschied sie und erneut nickte er nur.

Plötzlich lenkte eine kleine, feine Daune seine Aufmerksamkeit auf sich, die wohl durch den Windstoß hochgewirbelt wurde, der von der sich öffnenden Cafétür ausgelöst wurde. Sie landete genau zwischen Eliza und ihm. Auch Eliza starrte die Feder an, ehe ihre Blicke sich wieder trafen. Engel, was für ein Quatsch. Die gab es nicht. Aber diesen Moment gab es, der war real. Er würde ihr überall hin folgen, das wusste er jetzt mit Gewissheit. Das war Wahnsinn. Oder Schicksal. Wer wusste das schon?

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Wir sind alle Engel mit nur einem Flügel.
Um fliegen zu können, müssen wir einander umarmen.

(c) Luciano de Crescenzo

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100-Follower-Special/ 100 Tage GefühleWhere stories live. Discover now