Kapitel 1 - Es war einmal...

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Beherrscht die Macht der Herrscher Kinder. Wachsen wird sie drum nicht minder.
Die Gedanken unverdorben, mit den Trickstern keine Sorgen.
Zieht sie auf, in Unwissenheit. Erwartet wird Gehorsamkeit.
Nur wenn man auf das Schicksal schwört, die Spinne die Gebete hört.

~Mile~
29. Juni 2019 - Berlin, Deutschland, Modo

Es war ein heisser Sommertag, die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und auf dem Zaun vor dem Pastorenhaus sass eine kleine, braune Eule. Weder die Hitze noch das grelle Licht schienen den nachtaktiven Vogel zu stören. Regungslos kauerte er da und beobachtete das Gebäude. Erst als das Knipsen einer Handykamera ertönte, drehte er den Kopf und flatterte eilig davon.

Mile Beltran, sein Board unterm Arm, eine Sonnenbrille auf der sommersprossigen Nase, das flammende Haar in alle Himmelsrichtungen abstehend, eine grosse Schramme am rechten Knie, liess das Smartphone zurück in seine Hosentasche gleiten. Er war eigentlich keiner dieser Jugendlichen, die jeden umgefallenen Reisssack fotografieren mussten, um jeweilige Social Media-Plattformen damit zu bepflastern, aber es gab da jemanden, der sich über diese Fotos freuen könnte.

Er stiess das Zauntor auf, schlenderte den Weg zum Pastorenhaus entlang, sprang die Treppe hoch und klingelte. Pastor Fraser, Pflegevater der Geschwister Beltran sowie dreier weiterer Waisen, öffnete und bevor er Mile einen seiner berühmten tadelnden Blicke zuwerfen konnte, schob sich dieser eilig an ihm vorbei. »Sorry Alec, Schlüssel vergessen!«

Der Pastor, der zu seinem Widerwillen von all seinen Schützlingen nur bei seinem Vornamen genannt wurde, grunzte etwas Unverständliches und schloss hinter ihm die Tür. Auch wenn er Pflegevater von fünf Kindern war, hatte er kaum ein Händchen für Menschen. Mile hatte trotzdem nichts gegen ihn, er war ihm dankbar. Seit bald acht Jahren kümmerte er sich so gut er konnte um ihn und seiner Schwester. Das reichte allemal für einen Sympathiebonus.

»Da sass grad eine Eule auf dem Zaun«, erzählte Mile, während er sich die Chucks abstreifte und in Richtung Schuhablage warf. »Hab ein Foto gemacht. Willst du es sehen?«

»Ich glaube viel eher, der Vogel hockt in deinem Kopf«, machte der Pastor sich über ihn lustig, während er stirnrunzelnd sein aufgeschlagenes Knie musterte. »Hast du deine Schoner vergessen?«

Mile zog die Sonnenbrille ab, um dem Pastor sein Augenrollen zeigen zu können, da entglitten seinem Pflegevater die Züge. »Herrgott, hast du ein Veilchen?«

Mile bliess die Wangen auf. ›Scheisse, da war ja was ...‹ Seufzend erklärte er: »Nein, das ist kein Veilchen, es ist eine Schramme.«

»Hast du dich wieder geprügelt?« Der Pastor warf die Hände in die Luft und kam näher, um sich den blauen Fleck genauer anzusehen. »Jetzt sag bloss, du hast deine Medikamente wieder nicht genommen?«

Mile seufzte. »Also erstens hab ich mich nicht geprügelt, ich bin hingefallen. Und zweitens, ja, ich hab sie genommen.« Beides gelogen. Er biss sich auf die Lippe. »Guckst du dir jetzt mein Eulenfoto an? Das ist so lustig!«

»Keine Zeit für diesen Unsinn«, schnaubte Alec und wedelte aufgeregt mit den Händen. »Hast du schon alles gepackt? Auch genug Medis?«

»Ja klar«, antwortete er und biss sich wieder auf die Unterlippe, während er die Treppe zu den Schlafzimmern hochschlurfte.

»Und Sabrina?«

~Sabrina~

Ich schreibe dieses Buch aus einem ganz bestimmten Grund. Ich war früher schizophren. Das hört sich ebenso unmöglich an wie »frühere AIDS-Patientin« oder »ehemalige Diabetikerin«. Ein ehemaliger Schizophrener ist etwas, das es so nicht gibt. Eine Rolle, die man niemals angeboten bekommt. Hingegen gibt es die Rolle des irrtümlich als schizophren diagnostizierten Pa-‹ Sie hatte den Satz noch nicht einmal zu Ende gelesen, da flog das Taschenbuch auch schon im hohen Bogen durch das Zimmer. Um ein Haar traf es Mile, der ausgerechnet jetzt in das Zimmer trat und es gerade noch schaffte, dem Geschoss auszuweichen.

Twos - Ein Märchen von Sommer und Winter  - Neue Fassung (3)Donde viven las historias. Descúbrelo ahora